Gamechanger Tarifvertragsgesetz - Eine Säule der Demokratie
Shownotes
“Geschichte wird gemacht” ist eine Produktion von Hauseins im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung. Weitere Informationen zur Stiftung unter: www.boeckler.de.
Eure Host ist: MARIA POPOV (Instagram: @maria.popov)
Zu hören in Folge 1:
Christian Bednarski (Instagram: @christian.bednarski)
Anna Mehlis, M. A.: https://www.fsv.uni-jena.de/fakultaet/institute-lehrstuehle/institut-fuer-soziologie/arbeitsbereiche/arbeits-industrie-und-wirtschaftssoziologie/personen/anna-mehlis-m-a
Stefan Körzell, DGB-Vorstandsmitglied | DGB: https://www.dgb.de/uber-uns/dgb-heute/organisation-und-bundesvorstand/stefan-koerzell
Infos & Links zu Folge 1:
Ohne Tarifvertrag verdienen Beschäftigte im Schnitt 11 Prozent weniger und müssen wöchentlich fast eine Stunde mehr arbeiten - Hans-Böckler-Stiftung: https://www.boeckler.de/de/pressemitteilungen-2675-ohne-tarifvertrag-verdienen-beschaftigte-weniger-48755.htm
Gestaltung der Arbeitswelt durch Tarifverträge | Arbeitsmarktpolitik | bpb.de: https://www.bpb.de/themen/arbeit/arbeitsmarktpolitik/318457/gestaltung-der-arbeitswelt-durch-tarifvertraege/
LeMO Weimarer Republik - Revolution 1918/19 - Arbeiter- und Soldatenräte: https://www.dhm.de/lemo/kapitel/weimarer-republik/revolution-191819/arbeiter-und-soldatenraete.html
LeMO Weimarer Republik - Industrie und Wirtschaft - Stinnes-Legien-Abkommen 1918: https://www.dhm.de/lemo/kapitel/weimarer-republik/industrie-und-wirtschaft/stinnes-legien-abkommen-1918.html
LeMO Weimarer Republik - Innenpolitik - Gewerkschaften in der Weimarer Republik: https://www.dhm.de/lemo/kapitel/weimarer-republik/innenpolitik/gewerkschaften-in-der-weimarer-republik.html
Das Tarifarchiv - Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut: https://www.wsi.de/de/21449.htm
Böckler Schule: https://www.boeckler.de/de/lohn-und-tarifpolitik-18293.htm
Tarifrebellion: https://www.tarifrebellion.de/
Jugend (verdi.de): https://jugend.verdi.de/
Transkript anzeigen
00:00 /Musik und Protestrufe/
00:23 Maria Popov: Hi, ich bin Maria Popov und ihr hört die erste Folge von „Geschichte wird gemacht“.
00:30 O-Ton Frau: Wir sind heute hier, weil uns die Arbeitgeber in der zweiten Tarifrunde ein freches, ein bodenloses Angebot gemacht haben.
00:36 O-Ton Mann: Wo es jetzt wichtig ist, dass wir nachlegen, dass wir zeigen, wie stark wir sind und dass wir hier mit einem guten Angebot und einem guten Ergebnis nach Hause gehen.
00:43 O-Ton Frau: Wir fordern 200 Euro mehr für Azubis.
00:44 /Musik/
00:50 Maria Popov: Das ist der Ausschnitt aus einem Video von der Ver.di Jugend bei einer Aktion in Potsdam im vergangenen Dezember. Und ihr hört es ja selbst, die Studierenden und Azubis, die dort auf die Straße gegangen sind, haben ordentlich Alarm gemacht und klar Forderungen im Gepäck. 200 Euro mehr für Auszubildende wollen sie, eine unbefristete Übernahme und eine Tarifierung der studentischen Hilfskräfte.
01:11 /Protestrufe/
01:17 Maria Popov: Einer, der an dem Tag auch mit in Potsdam ist, um Forderungen zu stellen, ist Christian.
01:21 Christian: Da kann man sich schon echt glücklich schätzen, dass es Gewerkschaften gibt, die sich auch in der Vergangenheit dafür stark gemacht haben, weil all diese Vorzüge, die man genießt, man muss sich dem immer bewusst werden, die sind nicht selbstverständlich, irgendwer hat da in der Vergangenheit für gekämpft.
01:39 Maria Popov: Und gekämpft wird ja auch heute noch. Gewerkschaften machen sich stark für gute Arbeit, ein gutes Leben und für eine stabile Demokratie. Auch Christian setzt sich für die Belange seiner KollegInnen und zwei Millionen weitere Beschäftigte im öffentlichen Dienst ein. Nicht nur indem er da auf die Straße geht bei dieser Aktion in Potsdam, er macht das auch auf eine leise Art und vor allem indem er viel Zeit mit warten verbringt. Was Christian genau macht und ob die Aktion in Potsdam am Ende erfolgreich war, dazu gleich mehr. Einen ganz wesentlichen Punkt hat Christian ja eben schon gemacht, nämlich den, dass eigentlich alles, was uns am Arbeitsplatz heute vielleicht als gegeben und auch als ganz selbstverständlich erscheint, gar nicht so selbstverständlich ist. Es musste nämlich erst von anderen hart erkämpft werden. Gewerkschaften blicken auf eine jahrzehntelange Geschichte an Arbeitskämpfen zurück. Kämpfe für eine gerechte soziale Gestaltung von Arbeit. Sie haben gekämpft für die Verbesserung von Arbeitsbedingungen, für den Abbau von Arbeitsbelastungen, einen Ausbau des Arbeitsschutzes und die Stärkung von Mitbestimmungsrechten. Habt ihr euch mal gefragt, wieso das eigentlich so ist, dass wir jeden Monat Lohn überwiesen bekommen, ohne extra danach fragen zu müssen? Wieso haben wir eigentlich Anspruch auf Urlaub, Krankengeld, Wochenende, geregelte Arbeitszeiten, Feierabend und Mitsprache am Arbeitsplatz? Ja, weil andere sich in der Vergangenheit dafür stark gemacht haben. Teils in entbehrlichen Arbeitskämpfen. Einige haben dafür sogar ihr Leben riskiert, auch darüber werden wir hier sprechen.
03:08 /Musik/
03:12 Maria Popov: In diesem Podcast geht es aber vor allem um die Frage, wie wir arbeiten und wie wir leben wollen. Wir blicken zurück in die Geschichte, um zu entdecken, was wir bereits an besseren Arbeits- und Lebensbedingungen dazu gewonnen haben. Wie wir heute von Kämpfen der Vergangenheit profitieren und wie es von hier aus weitergehen kann. Ihr hört „Geschichte wird gemacht“ Folge 1 und heute schauen wir auf das Tarifvertragsgesetz vom 9. April 1949.
03:38 /Musik/
03:44 Maria Popov: Das Tarifvertragsgesetz wurde am 09. April 1949 verabschiedet, also heute vor 75 Jahren. Ja, das ist lange her, aber doch total aktuell.
03:54 /Radiogeräusch/
03:55 O-Ton Mann: Nach dem Scheitern der Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst haben Bund und Kommunen nun eine Schlichtung eingeleitet, um eine Einigung mit den Gewerkschaften zu erzielen.
04:00 O-Ton Frau: In Potsdam haben heute gleich mehrere Gewerkschaften zu einer großen Kundgebung aufgerufen.
04:05 O-Ton Mann: Heute Abend um 18 Uhr beginnt ein weiterer Streik bei der Deutschen Bahn.
04:12 Maria Popov: Meldungen wie diese hören wir ja ständig in den Nachrichten. Dass es solche Tarifrunden und die Option auf Streik überhaupt gibt, das liegt eben am Tarifvertragsgesetz. Das war und ist ein echter Gamechanger für den Arbeitskampf. Im Prinzip begleitet uns das Tarifvertragsgesetz jeden Tag zur Arbeit. Denn ohne Tarifvertragsgesetz sähe auch dein Arbeitsleben heute ganz anders aus.
04:35 Christian: Man würde sehr wahrscheinlich auf jeden Fall mehr arbeiten. Über 40 Stunden hinaus. Man würde dafür weniger Lohn erhalten und man wäre sehr wahrscheinlich auch lange nicht so flexibel, wie ich es zum Beispiel mit meiner Homeoffice-Möglichkeit bin.
04:56 /Musik/
05:00 Maria Popov: Das ist wieder Christian, 21 Jahre, er lebt in Dortmund, wo er bei der Sparkasse als Kundenberater arbeitet. Anfang Dezember 2023 ist er aber nicht in Dortmund, da steht er nämlich im Stau, irgendwo zwischen Berlin und Potsdam. Tags zuvor gab es in Berlin ein Treffen der Ver.di Jugend. Das ist ein bisschen später geworden und am nächsten Tag soll es eigentlich zügig weitergehen.
05:19 Christian: Wir sind alle in den Bus. Ich hatte noch mit zwei weiteren KollegInnen einen Termin für die Verhandlungskommission im Kongresshotel.
05:27 Maria Popov: In diesem Kongresshotel tagt die dritte Tarifrunde der Länder für den öffentlichen Dienst. Und diese Tarifrunde und das ist in den Nachrichten damals gar nicht so durchgekommen, ist vor allem auch existentiell für viele junge Menschen, also für Azubis, dual Studierende, studentische Beschäftigte. Diejenigen also, die nicht besonders hohe Einkommen haben und die die Inflation gerade knallhart trifft.
05:49 O-Ton Frau: In Zeiten von so steigenden Preisen von Lebensmittelpreisen und der hohen Inflationsrate brauchen wir einfach 200 Euro mehr und unbefristete Übernahme, das ist unbedingt notwendig.
06:00 O-Ton Mann: Wir haben die Nase voll, dass die Preise steigen, wir können uns unsere Miete nicht leisten. Deswegen heute ist auch ein Megastreiktag mit hunderttausenden Kolleginnen.
06:09 Maria Popov: Und da will Christian mit anderen auch dringend hin.
06:11 Christian: Wir sind mit dem Bus und anderen Streikenden über die Autobahn gefahren, hat alles ganz gut geklappt, bis wir dann in Potsdam an sich waren. Wir wurden da nämlich durch die eigene Demo so ein Stück weit blockiert. Das war irgendwie cool zu sehen. Also es ist natürlich dann gut, da schon recht früh morgens für Krawall zu sorgen und auch unsere Forderungen und Erwartungen da als Ver.di Jugend zu vertreten.
06:38 Maria Popov: Auch wenn Christian dafür im Stau steckt und erst mal nicht selbst weiterkommt. Also steigen er und die anderen aus dem Bus und rennen zur Bahn.
06:45 Christian: Wir haben es aber zum Glück trotzdem pünktlich zum Kongresshotel geschafft und das Schöne war dann natürlich, noch zu sehen, dass wir dann von über 200 jungen Streikenden vorm Hotel begrüßt wurden, die quasi dann schon bereit waren und für ihre Sache gekämpft haben.
07:02 O-Ton Frau: Ich bin heute hier, weil wir als studentisch Beschäftigte auch in den Tarifvertrag wollen. Wir verdienen meistens nur Mindestlohn, wir haben eine Kettenbefristung nach der anderen. Viele von uns wissen nicht mal, ob sie im nächsten Semester noch einen Job haben. Und das kann nicht so weiter gehen.
08:02 /Musik/
07:20 O-Ton Protestrufe: Heute ist kein Arbeitstag, heute ist Streiktag. Heute ist Streiktag, heute ist Streiktag. Heute ist kein Arbeitstag, heute ist Streiktag. Heute ist Streiktag, heute ist Streiktag…
07:33 Maria Popov: Christian ist seit Oktober 2023 Mitglied der Verhandlungskommission des öffentlichen Dienstes bei der Ver.di Jugend. Er setzt sich in Tarifverhandlungen für die Interessen von über zwei Millionen KollegInnen ein. Er begleitet Tarifverhandlungen und arbeitet zusammen mit anderen Mitgliedern verschiedene Sachverhalte im öffentlichen Sektor aus. Er ist zum Beispiel Ansprechpartner bei sich im Betrieb für Fragen rund ums Arbeiten und macht Öffentlichkeitsarbeit für die Ver.di Jugend. Immer mit dem Ziel, eine angemessen Entlohnung sowie verbesserte Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten zu gewährleisten. So auch eben auch an diesem Tag in Potsdam.
08:08 Christian: Ja, es war die Tarifrunde der Länder und wir hatten uns zum Beispiel für einen bundeseinheitlichen TVStud, also für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen der studentisch Beschäftigten eingesetzt.
08:22 Maria Popov: TVStud, das steht für einen Tarifvertrag für die über 300.000 studentischen Beschäftigten. Christian selbst hat nicht studiert. Er ist 21 und hat nach dem Abitur eine Ausbildung gemacht, die er im vergangenen Jahr abgeschlossen hat. Seitdem arbeitet er als Kundenberater in der Sparkasse Dortmund und engagiert sich auch dort in der Jugend- und Auszubildendenvertretung.
08:43 Christian: Das Coole ist, normale Tage gibt es eigentlich gar nicht, weil man ist mit so vielen verschiedenen Menschen in Kontakt, auch im Kollegenkreis innerhalb der Sparkasse oder wenn ich mich engagiere, dass es also wirklich normale Tage eigentlich gar nicht gibt. Ich arbeite in einem jungen Team, wo wir zusammen einen etwas größeren sehr onlineaffinen Kundenstamm betreuen. Und dort bearbeiten wir dann halt die Anliegen, die anfallen. Also sei es jetzt, wenn es Schwierigkeiten im Onlinebanking gibt oder dass jemand ein paar Infos zu Girokonten möchte.
09:07 Maria Popov: Christian arbeitet fünf Tage die Woche, also 39 Stunden. Er liebt seinen Job in einem jungen Team und er kann echt nicht klagen, er geht wirklich gern zur Arbeit. Für ihn ist das umso mehr ein Grund, sich gewerkschaftlich zu engagieren.
09:20 Christian: Naja, es gibt auch Leute, denen es nicht gut geht. Und ich finde, gerade aus einer guten Lage heraus ist es noch mal dann viel wichtiger, sich für die Leute einzusetzen, denen es nicht gut geht, weil ich selbst einfach super zufrieden bin und ich habe ja den persönlichen Anspruch an mich selber, dafür zu kämpfen, dass es anderen Leuten genauso geht wie mir. Schauen wir uns zum Beispiel große Wirtschaftsberatung an. Es kann doch nicht sein, dass ein Praktikant, der gerade im Studium ist und sich für das Thema interessiert, ein Praktikum anfängt und auf einmal eine 60-Stunden-Woche schieben muss. Das ist unzumutbar, wie ich finde.
10:02 Maria Popov: Christian fährt gerne auf Streiks und begleitet Aktionen wie die in Potsdam. Hier sind an dem Tag im Dezember 23 nicht nur über 200 Auszubildende und Studierende aus ganz Deutschland angereist, um ihre Forderungen anzubringen, es sind viel viel mehr ArbeiterInnen aus dem öffentlichen Dienst zusammengekommen, um ihre Forderungen laut zu machen. Das ist für Christian immer auch eine Gelegenheit, ins Gespräch zu kommen und einen Einblick zu bekommen in Lebenswelten, die weit von seinem Kundenberateralltag entfernt sind.
10:30 Christian: Es gibt natürlich auch noch Leute am Pflegebett, es gibt Leute, die Kinder erziehen. Und deswegen spielt Austausch eine sehr sehr wichtige Rolle.
10:40 Maria Popov: Für Christian ist gewerkschaftliches Engagement auch ein Stück gelebte Demokratie.
10:44 Christian: Sei es jetzt bei Aufmärschen gegen rechts, dass man dort gemeinsam auftritt, aber natürlich auch in Tarifrunden auch zeigt, hey es gibt noch Leute am Stück, die zusammenhalten. Ich meine, es ist ja auch schön, wenn man auch wirklich Marktplätze voll sieht von Streikenden, die bei einem Thema dann auch wirklich zusammenhalten und den gleichen Konsens vertreten.
11:11 Maria Popov: Und zum Marktplatz in Potsdam ziehen jetzt auch die Streikenden weiter, nachdem sie im Hotel noch mal Lärm gemacht haben und ihre Forderungen an die verhandelnden Parteien, Gewerkschaften und ArbeitgeberInnen-Verbände herangetragen haben.
11:25 O-Ton Mann: Jo Leute, wir waren gerade im Kongresshotel, jetzt gerade sind wir auf dem Weg in die Stadtmitte, um weiter zu demonstrieren. Wir wollen die 200 Euro und eine unbefristete Übernahme für alle Azubis.
11:37 Maria Popov: Während die anderen ihre gemeinsamen Forderungen also weiter auf die Straßen Potsdams tragen, geht Christian ins Kongresshotel und macht sich an seine Arbeit als Mitglied der Verhandlungskommission.
11:44 Christian: Für mich als Mitglied der Verhandlungskommission ging es dann erst mal in einen Austausch mit den anderen Mitgliedern. Das heißt, man bespricht sich noch mal, man schaut, wie könnte es jetzt heute ablaufen, ist mit einem Ergebnis zu rechnen? Und irgendwann fangen dann die Verhandlungen an. So das stellt man sich wahrscheinlich spannender vor als es ist. Ich zum Beispiel habe dann erst mal viel Zeit mit warten verbracht, aber natürlich auch damit, Sachen vorzubereiten, falls es zu einem Tarifabschluss kommen könnte.
12:17 Maria Popov: Es dauert also. Kein Wunder, es muss ja auch wahnsinnig viel geklärt werden. Also von kleinen Details bis hin zu großen Streitpunkten. Für Christian als Mitglied der Verhandlungskommission heißt das an dem Tag warten aber auch beraten.
12:30 Christian: Wir sind das Gremium, das die Verhandlungsspitze eventuell in eine gewisse Richtung lenken kann, in gewissen Themen berät, weil wir natürlich auch Informationen von unserer KollegInnen haben, aber natürlich auch aus einem weiteren Gremium und dazu komme ich jetzt, das ist die Bundestarifkommission. Das ist die, die dann zum Beispiel am Ende auch über die Annahme eines Tarifergebnisses abstimmt.
13:00 /Musik/
13:04 Maria Popov: Ein Ergebnis ist zu dem Zeitpunkt in Potsdam bei der dritten Tarifrunde des öffentlichen Dienstes jedenfalls noch nicht in Sitz. Die Sitzung wird sich, und das kann ich jetzt schon mal verraten, bis in die Nacht hineinziehen. Dass Christian als 21-Jähriger an diesem Tag als Mitglied der Verhandlungskommission mit in Potsdam dabei ist, ja, dass es überhaupt so was wie branchenspezifische Tarifgespräche in mehreren Runden zwischen ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen gibt, das liegt am Tarifvertragsgesetz und der Tarifautonomie. Beides echte Gamechanger, ohne die viele tarifpolitischen Erfolge nie hätten erzählt werden können.
13:43 /Musik/
13:45 Maria Popov: Das Tarifvertragsgesetz wurde vor 75 Jahren am 09. April 1949 verabschiedet und damit sogar noch vor unserem Grundgesetz. Die Demokratie kam also in den Betrieb, bevor sie in die Verfassung kam. Überhaupt haben ArbeiterInnen, haben Gewerkschaften die soziale Demokratie immer wieder vorangetrieben. Um zu verstehen, wie es dazu kam, dass das Tarifvertragsgesetz 1949 noch vor dem Grundgesetz beschlossen wurde, müssen wir noch ein Stück weiter in die Geschichte zurückgehen. Und dafür, tadam, habe ich jetzt Unterstützung am Start, nämlich Steffi, Redakteurin des Podcasts, hallo.
14:26 Steffi: Hi Maria.
14:27 Maria Popov: Steffi, du hast dich ja tiefer in die Geschichte reingelesen. Und wir schauen jetzt erst mal in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, richtig?
14:36 Steffi: Genau, das ist nämlich eine Zeit, in der in Deutschland die ersten gewerkschaftlichen Bemühungen entstehen. Gestreikt wurde aber schon vorher für mehr Lohn und mehr Rechte der Arbeiter und Handwerksgesellen vor allen Dingen. Der erste überlieferte Arbeitskampf der Weltgeschichte ereignete sich im Übrigen, falls man mal auf einer Party irgendwie so Random Facts streuen möchte, vor mehr als 3000 Jahren in Ägypten. Die Arbeiter in den Totenstätten der Pharaonen streikten, als ihre Bezahlung ausblieb. Da steigen wir jetzt aber nicht weiter ein, das würde an der Stelle dann doch ein bisschen weiter zurückführen, aber ich fand es trotzdem spannend.
15:06 Maria Popov: Okay, bleiben wir also in Deutschland in der Gründerzeit. Also 1870er Jahre, was hat denn da die ArbeiterInnen bewegt?
15:14 Steffi: Die wollten am Aufschwung des Kaiserreiches teilhaben. Sie streikten dafür in ihren Fabriken und wurden dann in der konservativen Presse dafür als „Eitergeschwür der sozialen Frage“ diffamiert. Und der Kaiser, der hätte die Streikenden am liebsten direkt niederschießen lassen.
15:30 Maria Popov: Wow, das klingt auch noch mal wie ein Kapitel für sich.
15:32 Steffi: Absolut und von da an hatte der Kampf gegen die deutsche Sozialdemokratie jedenfalls begonnen. Wichtig ist hier für uns, an der Stelle mal festzuhalten, dass von den Arbeitern und ihren Bemühungen seit den ersten Arbeitskämpfen auch eine große soziale Strahlkraft ausging, weit über die eigenen Belange rund um Lohn und Arbeitsbedingungen hinaus.
15:48 Anna Mehlis: Sozialen Fortschritt gäbe es eigentlich ohne Gewerkschaften gar nicht.
15:55 Maria Popov: Das ist die Stimme von Anna Mehlis, sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Arbeitsindustrie und Wirtschaftssoziologie an der Universität Jena und beschäftigt sich mit Transformationsprozessen. Die hat das für uns noch mal eingeordnet.
16:08 Anna Mehlis: Wenn man sich dann vorstellt, dass die Bedingungen vor 200 Jahren, sage ich mal, recht schlecht waren für die Arbeitnehmenden, dann ist es vielleicht auch recht naheliegend, dass man versucht, sich zusammenzuschließen, und dadurch eben viele soziale Rechte überhaupt erst erkämpft wurden, also auf Druck der Gewerkschaften. Also das Verbot von Kinderarbeit zum Beispiel oder auch Sozialgesetzgebung. Der erste Urlaubsanspruch wurde 1903 durchgesetzt von Brauerei Beschäftigten oder von der Brauerei Gewerkschaft. Und es waren 3 Tage Urlaub. Also da sieht man schon mal so, was sich da entwickelt hat und worauf man dann auch aufbauen kann.
16:48 /Musik/
16:50 Maria Popov: Vom ersten Urlaubsanspruch 1903 springen wir jetzt also in das Jahr 1918, das Ende des ersten Weltkriegs, ja?
16:57 Steffi: Exakt und das wird zugleich das Ende des deutschen Kaiserreichs. Wilhelm der Zweite dankt ab und in den Wirren der darauf folgenden Novemberrevolution wird Deutschland zur Republik, die am 09. November 1918 ausgerufen wird.
17:12 Philipp Scheidemann Unser Freund wir eine Arbeiterregierung bilden der alle sozialistischen Parteien angehören werden. Arbeiter und Soldaten, seid euch dieser geschichtlichen Bedeutung dieses Tages bewusst.
17:22 Maria Popov: Klingt ja, wenn man das so sagt, erst mal nach einem ganz geschmeidigen Übergang.
17:26 Steffi: Ja, kommt aber darauf an, tatsächlich ist das ohne größeres Blutvergießen abgelaufen, aber ein Durchrutsch war es trotzdem nicht. Es war nämlich ziemlich turbulent. Also da ist in so kurzer Zeit so unfassbar viel passiert. Deutschland, muss man sich bewusst machen, ist ja in der Zeit in einer Übergangsphase 1918 und in den Wochen und Monaten danach steht erstmal die Frage nach dem zukünftigen System im Raum. Also parlamentarische Demokratie oder Rätesystem, was soll es werden? Es ist ein gesellschaftspolitischer Umbruch, ein regelrechtes politischen Erdbeben, sagen Historiker, das sich in der Zeit in Deutschland ereignet hat. Dieser Umbruch wird mitnichten nicht nur von der Führungsriege gestaltet, wie man vielleicht erwarten könnte. An den historischen Weichen, die in dieser Zeit gestellt werden, sind ArbeiterInnen ganz massiv beteiligt. Mit einem regelrechten revolutionären Flächenbrand, der am Ende sogar zum Sturz der Fürsten führte.
18:20 Maria Popov: Warte, die Arbeiter haben die Fürsten dann zu Fall gebracht oder wie?
18:23: Steffi: Ja, ja, doch, genau so kann man es sagen. Um zu verstehen, wie das kam, muss ich noch mal etwas weiter ausholen und wir schauen mal zusammen nach Kiel. Dort proben nämlich die Matrosen im Oktober 1918 den Aufstand. Die Flotte soll nämlich auf Befehl der deutschen Seekriegsleitung zu einem letzten, ich zitiere, „ehrenvollen Gefecht gegen britische Verbände“ auslaufen. Aber zu einem Zeitpunkt, wo längst klar ist, dass der Krieg verloren ist und schon bereits erste Vorgespräche über einen Waffenstillstand geführt werden.
18:55 Maria Popov: Okay, klingt dann ehrlich gesagt ziemlich sinnlos oder?
19:00 Steffi: Genau das und den Matrosen ging es genauso, denen war damals auch klar, das wird nichts, das ist hier eine sinnlose Todesfahrt. Sie sind kriegsmüde und wollen dem Tod nicht sehenden Auges entgegen segeln. Also sabotieren sie die Kriegsschiffe, so dass diese nicht mehr einsatzfähig sind. Meuterei.
19:16 Maria Popov: Aber so was bleibt bestimmt nicht ohne Folgen oder?
19:19 Steffi: Tatsächlich viele werden dafür dann eingesperrt und vor ein Kriegsgericht gestellt. Die restlichen Matrosen aber entwaffnen ihre Offiziere und übernehmen die Stadt Kiel und sie bekommen Unterstützung. Die ebenfalls kriegsmüden Werft- und Industriearbeiter steigen in den Streik mit ein. Dieser Aufstand breitet sich dann also wie ein Flächenbrand innerhalb weniger Tage über ganz Deutschland aus. Überall kommt es zu Aufständen, in den Kasernen und Streiks in den Fabriken. Und die wählen dann auch noch Vertreter und bilden Räte.
19:51 Maria Popov: Ach krass, die haben also quasi so was wie so eine provisorische Regierung gegründet oder?
19:55 Steffi: Ja genau. Und bis zum 10. November entstehen so in fast allen größeren deutschen Städten revolutionäre Arbeiter- und Soldatenräte, welche zum Teil unter der Losung „wir sind das Volk“ die städtische Verwaltung übernehmen. Sie gehen auf die Straße und stellen politische Forderungen und was sie wollen sind Frieden, die Abdankung des Kaisers und eine Umwandlung des Deutschen Reiches in eine demokratische Republik. Obwohl sie untereinander gar kein einheitliches Programm verbindet, treten nahezu alle Räte für die Beseitigung des monarchischen Obrigkeitsstaats und für eine Republik auf parlamentarischer Grundlage ein. Das muss man sich mal bewusst machen, was sie fordern ist also nicht weniger als neu geordnete politische Verhältnisse. Und das krasse ist, es gelingt ihnen auch. Der erste Fürst dankt in Bayern ab und dann folgen andere und so zerfällt die Monarchie in Deutschland wie ein Kartenhaus ohne größeres Blutvergießen.
20:52 Maria Popov: Ja krass nämlich, weil das ist die erste große Stunde der Gewerkschaften. Mit den Arbeitgeberverbänden gründen sie zum Interessenausgleich die Zentralarbeitsgemeinschaft. Und die Novemberrevolution von 1918 bringt führende deutsche Unternehmer dazu, den Gewerkschaften weitreichende Zugeständnisse zu machen.
21:12 Steffi: Mhm /bejahend/, die stimmen nämlich dem Stinnes-Legin-Abkommen zu, das ist benannt nach den beiden Verhandlungsführern, Hugo Stinnes, ein Großindustrieller, und der Gewerkschaftsführer Karl Legin. Und dieses Abkommen ist der Vorläufer zum Tarifvertragsgesetz. Das Stinnes-Legin-Abkommen wird am 15. November 1918 unterzeichnet und mit dieser Unterschrift werden alte gewerkschaftliche Forderungen erstmals verwirklicht.
21:36 Maria Popov: Also erkennen in dem Moment die Unternehmer also die Gewerkschaften als berufene Vertretung der Arbeiterschaft und als gleichberechtigte Tarifpartner an. Der Bildung von Arbeiterausschüssen in Betrieben mit mehr als 50 Beschäftigten wird ebenso zugestimmt wie der Einführung des 8-Stunden-Tages bei vollem Lohnausgleich, den kennen wir ja.
21:56 Steffi: Mhm /bejahend/ und das war eine Maßnahme, um die demobilisierten Soldaten wieder in den Wirtschaftsprozess zu integrieren. Daher kommt also ursprünglich der 8-Stunden-Tag. Sämtliche aus dem Heeresdienst zurückkehrende Arbeitnehmer haben jetzt Anspruch auf ihren früheren Arbeitsplatz. Zudem verpflichten sich die Arbeitgeber, die von ihnen als Konkurrenz zu den Gewerkschaften geförderten unternehmerfreundlichen Werkvereine nicht länger zu unterstützen. Als Gegenleistung erkennen die Gewerkschaften, die während des Ersten Weltkriegs zur größten Massenorganisation in Deutschland herangewachsen waren, die freie Unternehmerwirtschaft an.
22:32 Maria Popov: Okay, halten wir also kurz noch mal fest, das Stinnes-Legin-Abkommen bildet die Grundlage der Tarifvertragsordnung, die vom Rat der Volksbeauftragten verabschiedet wurde. Und mit der Zustimmung der Arbeitgeber und der daraus folgenden Tarifvertragsordnung erkennt diese die Gewerkschaften dann tatsächlich dauerhaft als Tarifpartner an. Aber warum machen die Arbeitgeber das eigentlich?
22:55 Steffi: Naja jedenfalls nicht wegen eines plötzlichen Gesinnungswandels. Es waren die Zugeständnisse, die man sich genötigt sah zu machen, um weitere Sozialisierungsmaßnahmen abzuwehren. Ein Zeitzeuge, Jakob Wilhelm Reichelt heißt der, Geschäftsführer des Vereins deutscher Eisen- und Stahlindustrieller, der hat das so formuliert:
23:17 O-Ton Reichelt: Maßgeblich war das Bemühen, das Unternehmertum vor der drohenden über alle Wirtschaftszweige hinwegfegenden Sozialisierung der Verstaatlichung und der nahenden Revolution zu bewahren.
23:28 Steffi: Ein weiterer Zeitzeuge Ewald Hilger, stellvertretender Vorsitzender des Vereins deutscher Eisen- und Stahlindustrieller hat während einer Sitzung der wichtigsten Repräsentanten der deutschen Schwerindustrie am 14. November im Nobelhotel Adlon am Pariser Platz in Berlin, das gab es damals auch schon, seinen Zuhörern zugerufen:
23:48 O-Ton Hilger: Ich bin einer der eifrigsten Verfechter des Nichtverhandelns mit den Gewerkschaften von jeher gewesen.
23:54 Steffi: Und das sagt er nur, um anschließend für einen radikalen Kurswechsel zu werben.
23:58 O-Ton Hilger: Wir kommen heute ohne die Verhandlungen mit den Gewerkschaften nicht weiter. Denn nur durch die Verhandlungen speziell mit den Gewerkschaften können wir Anarchie, Bolschewismus, Spartakusherrschaft und Chaos verhindern.
24:13 Maria Popov: Um den inneren Frieden zu wahren, hatte man einfach erkannt, dass man mit Gewerkschaften als Selbstorganisationen der Arbeiter verhandeln und sich einigen muss. Diese besondere revolutionäre historische Situation am Ende des Ersten Weltkriegs hat den Gewerkschaften hier also in die Karten gespielt. So und wie ging es dann weiter Steffi?
24:32 Steffi: Angesichts fortdauernder Krisen und steigender Arbeitslosigkeit gewinnt in Deutschland ab 1933 der Nationalsozialismus die Oberhand. Und die neuen Ideologien geben zwar zunächst vor, Sozialismus und Nationalismus zum Wohle des Arbeiters miteinander zu versöhnen, in Wirklichkeit jedoch zerschlagen sie die Arbeiterbewegung und verkünden ein, Zitat, „Ende des Klassenkampfs“.
24:56 Maria Popov: Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 und der Zerschlagung der freien Gewerkschaften sind alle erkämpften sozialpolitischen Errungenschaften der freien deutschen Arbeiterbewegung für die kommenden zwölf Jahre, ja, also eigentlich verloren. Die Gewerkschaften werden von den Nationalsozialisten zerschlagen und das schauen wir uns noch mal genauer an in der nächsten Folge. Jetzt springen wir aber direkt weiter in das Jahr 1949.
25:23 /Musik/
25:28 Maria Popov: Am Ende des Zweiten Weltkriegs wird auch das Tarifvertragsgesetz vor dem Verfassungsbeschluss des Grundgesetzes verabschiedet, und zwar ohne größere Konflikte. Der Gesetzesentwurf wurde von den Gewerkschaften eingebracht und weitgehend übernommen. Aufgrund der schlechten Erfahrungen mit dem staatlichen Schlichtungswesen noch aus der Weimarer Republik stimmen auch die Arbeitgeber dem Tarifvertragsgesetz zu, und das garantiert die Tarifautonomie.
25:54 Steffi: Genau, und jetzt hören wir mal, was Konrad Adenauer in seiner ersten Regierungserklärung vor dem deutschen Bundestag am 20. September 1949 gesagt hat.
26:03 O-Ton Adenauer: Wir sind durchdrungen von der Überzeugung, dass dasjenige Volk, das sicherste, ruhigste Leben führen wird, das möglichst viele mittlere und kleinere unabhängige Existenzen in sich birgt.
26:25 Steffi: Er sagt in dieser Rede dann außerdem noch, dass die Rechtsbeziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern zeitgemäß neu geordnet werden müssen. Die Selbstverwaltung der Sozialpartner müsse an die Stelle staatlicher Bevormundung treten. Die Bundesregierung würde es gemäß der Koalitionsfreiheit den Verbänden überlassen, alles in freier Selbstverwaltung zu tun. Was den wirtschaftlichen und sozialen Interessen förderlich ist und was einer weiteren Verständigung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern dient.
26:56 Maria Popov: Das finde ich echt spannend, weil uns das noch mal zeigt, dass das Tarifvertragsgesetz also ein wesentlicher Demokratiemotor für die deutsche Nachkriegsgesellschaft wird. GewerkschafterInnen nehmen enormen Einfluss auf die Verfassungs- und Gesellschaftsstruktur in der Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland.
27:14 Steffi: Ja voll. Und ein Zeitzeuge, der das auch noch mal bestätigt, ist der Gewerkschafter und Arbeitsrechtler Erich Bührig. Der hat gesagt:
27:22 O-Ton Bührig: Wir brauchen somit eine Gestaltung der sozialen und arbeitsrechtlichen Verhältnisse, einschließlich des Schlichtungswesens, die geeignet sind, aus dem Untertanen einen sich selbst bewussten Staatsbürger zu machen.
27:35 Steffi: Bührig geht es also um deutlich mehr als nur um eine reine Tarifpolitik. Es geht ihm letztendlich ganz grundsätzlich um selbstbewusste BürgerInnen in einem demokratischen Staat. Weder Unternehmerwillkür der Kaiserzeit, noch die Staatsallmacht der Nazidiktatur sollten zukünftig die Arbeitsbeziehungen bestimmen.
27:53 Maria Popov: Krass, oder, was der Blick in die Geschichte offenbart. Wie sehr Gewerkschaften bei der politischen und gesellschaftlichen Neuordnung Deutschlands nach dem ersten und nach dem zweiten Weltkrieg als demokratische Institutionen mitgewirkt haben. Und dass das Tarifvertragsgesetz noch vor dem Grundgesetz verabschiedet wurde, was? Krass. Halten wir also nochmal fest, das Tarifvertragsgesetz garantiert bis heute die Tarifautonomie. Das heißt, der Staat hat eigentlich, ja, nichts zu melden. Die Tarifautonomie ist eine staatsfreie Regulierungssphäre, mit Ausnahme des Mindestlohns, da redet der Staat mit. Die Tarifautonomie garantiert auch das Recht auf Arbeitskampfmaßnahmen, zum Beispiel eben einen Streik als Mittel zur Durchsetzung von Tarifforderungen. Geht es euch da auch so? Mir fällt es total schwer, mir vorzustellen, wie unser Arbeitsleben heute ohne Tarifvertragsgesetz aussehen würde.
28:42 Stefan Körzell: Ja, unser Arbeitsleben würde mit Sicherheit ungerechter aussehen.
28:47 Maria Popov: Das ist Stefan Körzell, Vorstandsmitglied des deutschen Gewerkschaftsbundes DGB.
28:51 Stefan Körzell: Tarifverträge und Tarifautonomie sorgen dafür, dass es Gerechtigkeit im Arbeitsleben gibt und sorgt auch für einen Interessenausgleich zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern und schafft vor allem gerechte Bedingungen in der Arbeitswelt. Und die Stärke ist, dass das jeweils auf die eigene Branche ist. Wir machen ja nicht einen Tarifvertrag für alle, sondern wir machen Tarifverträge in sehr unterschiedlichen Branchen und da ist bei den Arbeitgebern und bei den Gewerkschaften für die Branche jeweils die Kenntnis am besten. Deswegen haben wir viele unterschiedliche Tarifverträge.
29:14 Maria Popov: Stefan Körzell verrät uns im Gespräch, dass seit 1949, also seit Abschluss des Tarifvertragsgesetzes, knapp eine halbe Million Tarifverträge abgeschlossen worden sind. Das spricht für eine große Regelungsautonomie und tarifvertragliche Erfolge.
29:24 Stefan Körzell: Tarifvertragliche Erfolge sind den Gewerkschaften nie in den Schoß gefallen, die meisten mussten hart erkämpft werden. Die Arbeitszeitverkürzung von 48 auf 45 Stunden. Die Lohnfortzahlung für Arbeiter im Krankheitsfall, das tarifliche Urlaubsgeld zuerst erstritten in der holzverarbeitenden Industrie. Dann die 40-Stunden-Woche in der Druckindustrie und natürlich auch die 35 Stunden in der Metall- und Elektroindustrie. Und dass es auch um mehr geht, macht deutlich der Abschluss den die IG Bau gemacht hat, für Dachdecker bei großer Hitze und bei Unwetter im Sommer, dass es dort ein Ausfallgeld gibt, das zeigt, wie Arbeitsbedingungen auch gestaltet werden durch Tarifverträge und wie auch Transformationsprozesse mitgestaltet werden.
30:13 Maria Popov: Die Regelungen über Entgelthöhen sind ein wesentlicher, aber nicht der einzige, Inhalt von Tarifverhandlungen und Bestandteil von Tarifverträgen. Neben diesen eher harten Regelungen nehmen seit gut zwei Jahrzehnten vermehrt weiche oder qualitative Regelungen zu. Sie definieren, wie sich die moderne Arbeitswelt gestalten sollte. Etwa hinsichtlich flexibler Arbeitszeit, Altersteilzeit, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Fort- und Weiterbildung und auch Regelungen zu mobilem Arbeiten. Man kann das ganz platt formulieren, wenn alle einen Tarifvertrag hätten, würde es allen gesamtgesellschaftlich auch besser gehen. Ja, denn wer keinen Tarifvertrag hat, der arbeitet länger und verdient weniger. Zu dem Ergebnis kommt eine Studie des wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung aus dem Jahr 2023, die wir euch auch in den Shownotes verlinken. Diese Studie zeigt, Betriebe mit Tarifvertrag bieten deutliche bessere Arbeitsbedingungen als vergleichbare Betriebe ohne Tarifbindung. So arbeiten Vollzeitbeschäftigte in tariflosen Betrieben im Durchschnitt wöchentlich fast eine Stunde länger und verdienen trotzdem elf Prozent weniger als Beschäftigte in Betrieben mit Tarifbindung.
31:30 /Musik/
31:30 Maria Popov: In Zeiten, wo die Lebenshaltungskosten stark steigen, so wie aktuell zum Beispiel, verfügen Beschäftigte in tarifgebundenen Betrieben deswegen eher über ein kleines finanzielles Polster. Tarifverträge helfen auch, die Gender-Paygap-Lücke zum Beispiel zu verkleinern, weil sie Standards setzen. Frauen arbeiten immer noch oft in Branchen und Betrieben, die keiner tariflichen Bindung unterliegen, daher sind Frauen im Beschäftigungsverhältnis häufiger als Männer auf gesetzliche Mindestregelungen angewiesen. Geringere Entgelte und fehlende Sonderzahlungen in nichttarifgebundenen Betrieben sind eine Ursache für den Gender-Paygap. Auch dazu werden wir mehr in einer späteren Folge erzählen. Also Betriebe, die keiner tariflichen Bindung unterliegen, sind ein Problem, denn sie Schwächen Gewerkschaften und die soziale Demokratie. Dazu jetzt noch mal Stefan Körzell vom deutschen Gewerkschaftsbund.
32:24 Stefan Körzell: Das macht es uns immer schwieriger, auch in manchen Branchen Tarifverträge abzuschließen, weil uns auf der anderen Seite der Verhandlungspartner fehlt. Und das ist die Grundvoraussetzung für einen Tarifabschluss, dass sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer den Gewerkschaften gegenüber sitzen, um einen Tarifvertrag auszuhandeln und das ist leider in der Bundesrepublik in den letzten Jahren gebröckelt, weil die Arbeitgeberverbände mittlerweile eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung anbieten.
32:55 Maria Popov: Das nennt man Tarifflucht und wie die funktioniert, haben wir uns an einem Beispiel erklären lassen.
33:00 Stefan Körzell: Unternehmen spalten ihre Unternehmen auf. In manchen Möbelhäusern ist jede einzelne Abteilung, die Küchenabteilung, die Wohnzimmerabteilung, die Arbeitszimmerabteilung, die Teppichabteilung, jedes ist eine eigene GmbH, damit macht man Betriebe künstlich klein, damit zum Teil auch keine Betriebsräte gewählt werden können und man begeht Tarifflucht, indem man sagt, es sind unterschiedliche Bereiche. Und deswegen fordern wir ja auch vom Gesetzgeber, dass genau diese Art der Tarifflucht untersagt wird.
33:28 Maria Popov: Die Tarifflucht der Arbeitgeber hat tatsächlich gesamtgesellschaftliche Auswirkungen.
33:34 Stefan Körzell: Das ist ein großer gesamtwirtschaftlicher Schaden, der dort entsteht, rund 130 Milliarden Euro beträgt der. Wir haben das in einer Tariffluchtbilanz ausgerechnet. Das trifft sehr unterschiedliche Bereiche, natürlich an allererster Stelle die Sozialversicherungen, denen entgehen durch die niedrige Tarifbindung im Jahr rund 43 Milliarden Euro. Bei der Einkommenssteuer macht das 27 Milliarden Euro aus und bei den Beschäftigten fehlen 60 Milliarden Euro als Kaufkraft im Portmonee.
34:05 Maria Popov: Und nicht nur das, sie schwächt auch die Gewerkschaften insgesamt.
34:10 Stefan Körzell: Uns schwächt natürlich die Tarifflucht, die Segmentierung von Betrieben, dass sie immer kleiner werden oder dass wir auf der anderen Seite auch Arbeitgeber haben, die sich partout verweigern, Tarifverträge mit uns abzuschließen.
34:23 Maria Popov: Und was stärkt Gewerkschaften?
34:25 Stefan Körzell: Viele Mitglieder, nur starke Gewerkschaften mit vielen Mitgliedern haben die Möglichkeit, in Arbeitskämpfen ihre Forderungen durchzusetzen. Das sehen wir in vielen Bereichen, dort, wo wir sehr mitgliederstark sind, haben wir sehr gute Tarifverträge. Und deswegen die Aufforderung Gewerkschaftsmitglied zu werden und gemeinsam mit uns für Tarifverträge zu streiten, für bessere Einkommens-, Arbeits- und Lebensbedingungen. Und wir sind sehr froh darüber, dass gerade im letzten Jahr wir nicht nur einen Mitgliederzuwachs in den DGB-Gewerkschaften hatten, sondern dass vor allem auch junge Menschen in die Gewerkschaften eingetreten sind.
35:00 Maria Popov: Junge Menschen, also so wie Christian, den ihr am Anfang gehört habt. Oder auch wie Anna Mehlis von der Uni Jena. Die forscht nämlich nicht nur zu Gewerkschaften, die 33-Jährige ist auch selbst gewerkschaftlich aktiv und hat bei den Tarifrunden im öffentlichen Dienst, wo auch für ein Tarifvertrag für studentische Beschäftigte gekämpft wurde, ihr erinnert euch bestimmt, selbst in Jena dafür mitgekämpft.
39:20 Anna Mehlis: Für mich war das auch eine tolle Erfahrung, tatsächlich jetzt das erste Mal so einen Streik mit zu erleben. Und bei uns haben dann ja nicht nur die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen gestreikt, sondern auch die Mitarbeitenden aus den Mensen zum Beispiel. Und das ist einfach schön, wenn man dann mal in den Austausch kommt und irgendwie auch die Arbeit der anderen irgendwie wertschätzt und sieht und guckt, welche Probleme gibt es da eigentlich? Und zum Beispiel hatte ich so das Gefühl, also Solidarität hat dann in dem Zusammenhang auch bedeutet, dass man natürlich sieht, wie die Leute eingruppiert sind und dass man vielleicht dann auch sagt, okay wichtiger ist, dass man einen Sockelbetrag aushandelt, damit die unteren Lohngruppen auch einen entsprechenden Lohnzuwachs bekommen bei der hohen Inflation. Also dass man irgendwie guckt, nicht nur, welche Vorteile ich da persönlich für mich rausziehen kann, sondern wie man als Kollektiv auch für die anderen mit einstehen kann. Genau. Und gerade bei Streiksituationen oder so, finde ich, merkt man dann auch so eine Selbstwirksamkeitserfahrung, zum Beispiel so ein Empowerment, dass man selber auch demokratisch handeln kann.
36:30 Maria Popov: Und umso gespannter hat Anna natürlich Anfang Dezember 2023 nach Potsdam geblickt, wo Christian bis in die Nacht als Mitglied der Verhandlungskommission sitzt und darauf wartet, ob es zu einem Tarifabschluss kommt oder nicht.
36:45 Christian: Ja, die Verhandlungen gingen ja bis in die Nacht rein und dann hieß es kurz vorher erst mal, dass man sich als Bundestarifkommission noch mal trifft und dass die Verhandlungen noch andauern. Und am nächsten Morgen wurden dann noch mal die gesamte Bundestarifkommission in den Kongresssaal eingeladen.
37:07 O-Ton Journalist: Am Ende wird es eine Nachtsitzung, bis sich Gewerkschaften und Arbeitgeber auf einen Kompromiss geeinigt haben.
37:14 O-Ton Mann: Alle Beschäftigten des öffentlichen Dienstes sind gleichermaßen von hohen Preisen betroffen und wir haben einen grassierenden Arbeitskräftemangel in allen Bereichen des öffentlichen Dienstes. Wir haben jetzt ein Verhandlungsergebnis, das wertig ist.
37:29 Maria Popov: So, es gab also einen Kompromiss, eine Einigung, auch was die Forderungen der Ver.di Jugend betrifft, hat es erst mal nur für einen Kompromiss gereicht.
37:38 Christian: Die positiven Nachrichten waren auf jeden Fall eine unbefristete Übernahme ab der Note befriedigend für junge Beschäftigte, insgesamt 1500 Euro Inflationsausgleichszahlung und 150 Euro Entgelterhöhung für Auszubildende und dual Studierende.
37:59 Maria Popov: Einen eigenen Tarifvertrag für die studentischen Beschäftigten der TVStud gab es vorerst nicht. Das heißt, keine Tarifierung der Arbeitsbedingungen für die über 300.000 studentisch Beschäftigten. Für studentisch Beschäftigte ohne Abschluss gibt es zum Sommersemester 2024 erstmalig einen Mindeststundenlohn von 13,25 Euro. Außerdem wurden Mindestvertragslaufzeiten für studentisch Beschäftigte auf ein Jahr eingeführt. Darüber hinaus sollen die Mindestentgelte und Arbeitsbedingungen studentischer Beschäftigter auch in den nächsten Tarifrunden verhandelt werden.
38:35 Anna Mehlis: Ja, ich hätte mir ein bisschen mehr erhofft, tatsächlich auch gerade für die studentischen Beschäftigten. Aber an sich fand ich es trotzdem, glaube ich, einen ganz guten Abschluss so, zumindest ist es ja verankert worden, dass man irgendwie in der nächsten Verhandlungsrunde sozusagen weiter anknüpft.
38:51 Maria Popov: Ja, da wäre also einiges mehr gegangen, aber mehr geht eh immer. Und so hat Christian einiges auf der Liste noch stehen, wo Luft nach oben ist und wofür er sich in Zukunft auf jeden Fall einsetzen möchte.
39:03 Christian: Der öffentliche Dienst muss moderner aufgestellt werden und sollte natürlich auch offener für neue Arbeitszeitmodelle zum Beispiel sein. Das ist ein sehr wichtiges Thema, was auch die Jugend bewegt. Wir als Ver.di Jugend haben uns das Thema psychische Gesundheit zum Beispiel für dieses Jahr ganz groß auf die Fahne geschrieben, dass wir uns einfach noch mal verstärkt dafür einsetzen und darauf aufmerksam machen.
39:33 Maria Popov: Christian und Anna werden sich auf jeden Fall weiter engagieren für gute Arbeit, ein gutes Leben und für eine stabile soziale Demokratie.
39:42 Christian: Gewerkschaften sind ja auch einfach in der Demokratie ein unfassbar wichtiger Anker und haben in der Vergangenheit auch gezeigt, dass sie sich nicht nur in Tarifrunden stark machen können, sondern auch außerhalb und dort auch Dinge erreichen können.
39:56 Anna Mehlis: Es kommt ja immer auch auf gesellschaftliche Kräfteverhältnisse an und wie sich dann vielleicht Gesetze weiterentwickeln und so weiter. Und es kann ja auch wieder was weggenommen werden, so ist ja nicht. Das heißt, das ist dann ja schon bedeutend, sich darüber klar zu machen, wo kommt das her, wie wurde das erkämpft. Und sich dann auch klar zu machen, dass es auch an uns liegt, weitere Verbesserungen zu erkämpfen und auch genau alte Errungenschaften sozusagen nicht so leicht fertig herzugeben.
40:25 Maria Popov: Also Errungenschaften, wie das Tarifvertragsgesetz und die Tarifautonomie, sind nicht selbstverständlich, sie wurden erkämpft. Und sie sind ein wichtiger Anker in unserer sozialen Demokratie. Genau deshalb gilt es, sie zu verteidigen. Denn wie die Geschichte gezeigt hat, ist nichts in Stein gemeißelt und was erkämpft wurde, kann auch wieder zerschlagen werden. Doch damit befassen wir uns in der nächsten Folge.
40:49 /Musik/
40:54 Maria Popov: Das war Gamechanger Tarifvertragsgesetz. Eine stabile Säule der Demokratie. Die erste Folge von „Geschichte wird gemacht“. Die nächste Folge erscheint in sechs Wochen. Klickt gerne auf abonnieren, um sie nicht zu verpassen. Wenn euch gefallen hat, was wir machen, dann lasst uns gerne einen Like, Sterne oder eine Bewertung da, wir würden uns sehr sehr freuen. „Geschichte wird gemacht“ ist eine Produktion von hauseins im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung. Ich bin eure Host Maria Popov. Redaktion: Stefanie Groth für hauseins und Dieter Pougin für die Hans-Böckler-Stiftung. Produktionsleitung: Melanie Geigenberger. Schnitt und Sounddesign: Joscha Grunewald. Tschau, bis zum nächsten Mal.
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