Die Vergessenen – Wie Vertragsarbeiter*innen in der Wendezeit im Stich gelassen wurden

Shownotes

Etwa 220.000 Menschen kamen aus dem Ausland in die DDR, um dort als Vertragsarbeiterinnen zu arbeiten. Ihnen wurden Weiterbildung- und Aufstiegschancen versprochen, gute Lebensbedingungen und kulturelle Teilhabe. Doch diese Versprechen wurden für die allermeisten Vertragsarbeiterinnen nicht erfüllt. Stattdessen lebten sie isoliert und mussten meist schwere Arbeiten verrichten, die bei den einheimischen Arbeitnehmer*innen unbeliebt waren. Wer sich wehrte oder widersprach, dem wurde mit Abschiebung gedroht.

Eine der Personen, die damals nach Deutschland kamen, war Vũ Thị Hoàng Hà. Sie kannte die DDR schon aus ihrer Studienzeit und kam als junge Erwachsene zurück, um für vietnamesische Vertragsarbeiterinnen zu übersetzen. Nach der Wende ist sie geblieben und setzt sich bis heute für Menschen mit Migrationsgeschichte ein. Wie verhielten sich die Gewerkschaften – insbesondere nach der Wiedervereinigung – gegenüber den ehemaligen Vertragsarbeiterinnen?

Darüber sprechen wir mit Marcel Bois von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg und mit Vera Egenberger, die beim DGB in der Fachabteilung Demokratie und Migrations- und Antirassismuspolitik arbeitet.

Außerdem haben wir noch einen Podcasttipp für euch! Wenn ihr euch für migrantische Perspektiven interessiert, hört unbedingt bei Halbe Katoffl rein.

Links und Hintergründe

Transkript anzeigen

00:00:00: ,000 *Protestrufe*

00:00:08: ,685 *Musik*

00:00:23: ,417 Katharina Alexander: Hey, ich bin Katharina Alexander. Und ihr hört "Geschichte wird gemacht". Wir schauen uns in diesem Podcast ja an, wie sich Gewerkschaften seit über 100 Jahren dafür einsetzen, die Arbeits- und Lebensbedingungen für alle zu verbessern. Aber, und auch das ist uns wichtig: Nicht immer hat das geklappt.

00:00:42: ,828 *Musik*

00:00:46: ,124 Zum Beispiel in der Wendezeit, in der haben sie eine ziemlich vulnerable Bevölkerungsgruppe basically vergessen: die ehemaligen Vertragsarbeiter*innen. Also Menschen aus dem Ausland, die zum Arbeiten in die DDR kamen und dort oft unter ziemlich üblen Bedingungen gelebt haben. Nach der Wiedervereinigung von DDR und BRD hätten diese Menschen Support gebraucht, aber sie wurden mit ihren Sorgen von vielen Institutionen allein gelassen. Wie geht es den Menschen, die damals nach Deutschland kamen, heute? Um das rauszufinden, bin ich vor einigen Wochen nach Magdeburg gefahren.

00:01:19: ,146 *Zuggeräusche*

00:01:21: ,793 Ich war da nämlich verabredet, und zwar in so einem richtig eindrucksvollen Gebäude, mit großer Eingangshalle und tierisch hohen Decken. Das ist die ehemalige Kunstgewerbe- und Handwerkerschule Magdeburg. Heute sitzen da aber keine Studis mehr, sondern verschiedene Vereine aus den Bereichen Kunst, Kultur und Gesellschaft. Dort hat auch Vũ Thị Hoàng Hà ihr Büro.

00:01:41: ,345 Vũ Thị Hoàng Hà: Also arbeite dann aktuell so als hauptamtliche Mitarbeiterin in einem Projekt von LAMSA. Also LAMSA ist dann dieser Dachverband von verschiedenen Migrantenorganisationen in Sachsen-Anhalt.

00:01:56: ,843 Katharina Alexander: Vũ Thị Hoàng Hà ist Mitte 60, eine freundliche Frau, die sich seit Jahrzehnten für die vietnamesische Community in Deutschland und gegen Rassismus einsetzt. Aktuell unterstützt sie migrantische Eltern dabei, sich im deutschen Schulsystem zurechtzufinden. Wenn sie davon erzählt, dann merkt man ihr an, dass ihr ihre Arbeit Spaß macht.

00:02:16: ,236 Vũ Thị Hoàng Hà: Alle verstehen, Bildung ist der richtige Weg, besonders für Migranten sehr, sehr wichtig. Weil, natürlich wir haben anfangs wenige Chancen. Also die Chance ist nicht gleich wie bei den Deutschen, weil wegen sprachlicher Barriere, wegen kultureller Barriere oder auch Rassismus und so. Da sind verschiedene Barrieren, die wir dann überwinden müssen.

00:02:42: ,956 Katharina Alexander: Auch in ihrer eigenen Geschichte hat Bildung eine extrem wichtige Rolle gespielt. Inzwischen lebt Vũ Thị Hoàng Hà seit fast 40 Jahren in Magdeburg. Ursprünglich kommt sie aus Vietnam. Als Kind ist sie eine gute Schülerin, und auch trotz des Krieges zwischen den USA und Nordvietnam setzen ihre Eltern alles daran, dass sie weiterhin zur Schule gehen kann.

00:03:02: ,715 Vũ Thị Hoàng Hà: Also ich wusste ganz genau, meine Schule war damals, also meine Klasse unter der Erde, also mit Tunnel und wenn da dieser Alarm kam, dann mussten wir dann über die Tunnel zu dem Versteck laufen. Und wir haben trotzdem die Schule gemacht und keinen Abbruch, keinen Schulabbruch.

00:03:22: ,283 Katharina Alexander: Und so schließt Vũ Thị Hoàng Hà die Schule mit Topnoten ab und bekommt das Angebot, im Ausland zu studieren, in der DDR.

00:03:30: ,083 *Musik*

00:03:33: ,932 Die DDR schrieb sich ihren Beitrag zur Völkerfreundschaft groß auf die Fahnen. Und wie lässt sich der am besten leisten? Indem man junge Menschen aus verbündeten Staaten supportet. Zwischen 65.000 und ungefähr 80.000 Menschen aus dem Ausland sollen in der DDR studiert haben. Und eine von ihnen ist Vũ Thị Hoàng Hà. Sie landet mit 18 in Leipzig und fängt an, dort Germanistik zu studieren. Und sie ist begeistert von der internationalen Atmosphäre.

00:04:02: ,368 Vũ Thị Hoàng Hà: Wir hatten Vorlesungen gehabt zusammen mit deutschen Studentinnen und Studenten, aber sonst in den Seminaren oder Kursen, da waren nur wir ausländische Studentinnen. Da waren wir dann aus der Sowjetunion, meist Ostblockländer, aber auch viele aus Afrika. Also, ich habe bis heute noch einige Kontakte zu meinen ehemaligen Kommilitonen. Und wir hatten uns sehr gut verstanden. Also ich habe gesagt, ich habe diese Vielfalt schon damals erlebt. Das Ausländeramt hat uns sehr viel geholfen. Also wir wurden als vietnamesische Studenten sehr viel unterstützt.

00:04:45: ,140 Katharina Alexander: Schon in Vietnam hat Vũ Thị Hoàng Hà sechs Monate lang einen Deutschkurs gemacht. Und auch in der DDR wird sie weiterhin gefördert.

00:04:52: ,556 Vũ Thị Hoàng Hà: Da war ich mit einer Vietnamesin zusammen, mit zwei anderen deutschen Studentinnen in einem Vierbettzimmer. Und das war absichtlich gemacht, damit die zwei deutschen Freundinnen uns immer so beim Sprechen geholfen haben.

00:05:10: ,891 Katharina Alexander: Vũ Thị Hoàng Hà genießt ihre Studienzeit. Die politische Indoktrinierung der DDR bekommt sie nur am Rande mit. Politik interessiert sie damals nicht so wirklich, sie will lieber ihre Zeit im Ausland genießen. Sie macht ihr Diplom und reist anschließend zurück nach Hanoi.

00:05:26: ,604 Vũ Thị Hoàng Hà: Und dann war ich dann zurückgeflogen nach Vietnam, weil damals war es so, keine von uns hat so ans Bleiben gedacht. Weil damals waren wir alle sehr jung und wir hatten auch schon immer dieses Ziel, dass wir dann wieder zurück ins Land und dann um das Land wieder aufzubauen, weil dann der Krieg war schon vorbei, das war auch sehr schwierige Zeit und ja, ich habe dann in Vietnam dann zwei Jahre lang gearbeitet.

00:05:56: ,386 Katharina Alexander: Aber wirtschaftlich ist es schwierig. Die USA hat nach dem Krieg ein Handelsembargo gegen Vietnam verhängt. Viele Menschen leben in Armut. Und auch wenn die DDR kein freies Land war, hatte Vũ Thị Hoàng Hà dort trotzdem mehr Möglichkeiten als in ihrer Heimat.

00:06:12: ,595 Vũ Thị Hoàng Hà: Dann gab es dieses Angebot, dass man sucht sehr nach Dolmetscherinnen. Die dann in der DDR so für die vietnamesischen Leute dann betreuen sollten. Und da habe ich dann angemeldet. Ich sage, ich mache dann einen Versuch, um aus dieser Krise oder aus dieser engen Lage rauszukommen und mal gucken. Ich habe nie gedacht, dass ich dann in diesem Land bleibe (lacht).

00:06:42: ,901 *Musik*

00:06:46: ,698 Katharina Alexander: Es ist der 9. November 1989. Vor einem grünen Vorhang sitzen in Ostberlin vier Personen an einem Pult. Vor ihnen ein Raum voller Journalisten aus der ganzen Welt. SED-Funktionär Günther Schabowski hat das Wort.

00:07:01: ,146 O-Ton Günther Schabowski: Also Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen, Reiseanlässen und Verwandtschaftsverhältnissen beantragt werden, die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt.

00:07:11: ,153 Katharina Alexander: Auf die Nachfrage eines italienischen Journalisten, ab wann das denn gelte, blättert Schabowski etwas unbeholfen durch seine Unterlagen und spricht dann die Worte aus, die die letzten Tage der DDR einläuten werden.

00:07:23: ,435 O-Ton Günther Schabowski: Das tritt ... nach meiner Erkenntnis ist das sofort. Unverzüglich.

00:07:29: ,920 Katharina Alexander: Die Mauer ist offen. Und in ganz Deutschland feiern Menschen, sind auf der Straße, sitzen gebannt vor dem Fernseher. Eine von ihnen ist Vũ Thị Hoàng Hà.

00:07:39: ,399 Vũ Thị Hoàng Hà: Die Grenze wurde geöffnet und wir durften dann rüber. Also einige vietnamesische Menschen haben das gemacht, also ich dann nicht, weil, ich glaube dann, ich habe ein bisschen Angst.

00:07:51: ,927 Katharina Alexander: Seit zwei Jahren ist Vũ Thị Hoàng Hà zu diesem Zeitpunkt wieder in der DDR. Dieses Mal in Magdeburg. Sie arbeitet als Übersetzerin für Vietnames*innen in einer Schuhfabrik. Und diese Nachricht, der Fall der Mauer, das Ende der DDR, die werden ihr Leben mehr beeinflussen, als sie sich in diesem Moment vorstellen kann. Aber von Anfang an.

00:08:13: ,173 *Musik*

00:08:15: ,932 Ab den 1960er Jahren schließt die DDR Abkommen mit ihren sozialistischen Bruderstaaten, zum Beispiel mit Algerien, Ungarn oder Mosambik, um Arbeitskräfte anzuwerben.

00:08:25: ,649 Marcel Bois: Der Hintergrund dafür ist natürlich Arbeitskräftemängel, der einerseits demografisch bedingt war, und zum anderen natürlich bis zum Mauerbau viele Fachkräfte in den Westen gegangen sind. Und dem hat dann eben die DDR-Führung versucht entgegenzuwirken.

00:08:42: ,875 *Musik*

00:08:45: ,595 Katharina Alexander: Das ist Marcel Bois. Er ist Historiker und arbeitet an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. In seiner Forschung befasst er sich mit der Arbeiter*innenbewegung und Gewerkschaften. In der DDR möchte man sich damals von Westdeutschland abgrenzen. Rassismus, den hat man nach 1945 komplett hinter sich gelassen. Anders als in der Bundesrepublik sollen die ausländischen Arbeitskräfte nicht ausgebeutet werden. Stattdessen will man im Namen der solidarischen Völkerfreundschaft Abkommen schließen, von denen – angeblich – beide Seiten profitieren.

00:09:17: ,896 Marcel Bois: Den Beschäftigten wurde gesagt, dass sie eine Ausbildung machen können, dass sie Bildung bekommen, dass sie sozusagen dann, wenn sie zurück in ihre Heimatländer gehen, eben sehr davon profitiert haben, nach Ostdeutschland gekommen zu sein. De facto waren sie aber in den meisten Fällen billige Arbeitskräfte.

00:09:36: ,499 Katharina Alexander: Bis zur Auflösung der DDR werden insgesamt 220.000 Vertragsarbeiter*innen nach Ostdeutschland kommen – rund 60.000 von ihnen aus Vietnam. Sie stellen damit die größte Bevölkerungsgruppe unter den Vertragstarbeiter*innen.1987 reist Vũ Thị Hoàng Hà also zurück nach Magdeburg. Ihr Vertrag geht über fünf Jahre – dass die DDR nicht so lange exitstieren wird, das ahnt sie damals noch nicht. Die Situation vor Ort ist für sie eine ziemlich andere, als sie es aus ihrer Studienzeit in Leipzig gewohnt ist.

00:10:06: ,947 Vũ Thị Hoàng Hà: Wir wurden nicht so respektiert.Wir haben auch keinen Weg gefunden zu den Leuten, weil es war nicht erwünscht, dass man dann Kontakte zueinander hatte. Also ganz wenige Kontakte zu den Deutschen, nur Kollegen, Kolleginnen, aber nur flüchtig auf Arbeit, aber privat gar nicht.

00:10:28: ,866 Marcel Bois: Es wurde von Seiten der DDR-Führung versucht, die Beschäftigten halbwegs abzuschotten. Also die haben in Heimen gelebt. Sie sollten nicht so viel Kontakt zur einheimischen Bevölkerung haben.

00:10:42: ,161 *Musik*

00:10:45: ,036 Katharina Alexander: Und das klappt. Während sie in ihrer Unizeit in Leipzig sehr viel mit Menschen aus anderen Ländern – auch aus der DDR – in Kontakt gekommen ist, hat Vũ Thị Hoàng Hà dazu plötzlich kaum noch Möglichkeiten. Sie ist mit einer Gruppe aus 140 anderen Vietnames*innen in einem Plattenbau untergebracht. Morgens kommt ein Bus und fährt sie zur Schuhfabrik, die in einem Vorort von Magdeburg liegt. Besuch von außen ist in der Unterkunft nicht erwünscht. Rückblickend würde Vũ Thị Hoàng Hà trotzdem sagen, dass sie und ihre Gruppe Glück hatten.

00:11:15: ,476 Vũ Thị Hoàng Hà: Als wir gekommen waren, wurden wir dann zugewiesen in einem Gebäude. Das war ein neuer Plattenbau. Das war damals auch Ziel von vielen Deutschen.

00:11:29: ,010 Katharina Alexander: Meistens sind die Wohnheime, in denen die Vertragsarbeiter*innen untergebracht werden, in einem ziemlich schlechten Zustand. Viele Wohnungen sind klein, verschmutzt und nur schlecht ausgestattet. Es gibt strenge Regeln und die Heimleitung hat jederzeit die Möglichkeit, die Zimmer zu betreten und Kontrollen durchzuführen. Auch einige Freund*innen von Vũ Thị Hoàng Hà erzählen ihr von den schlechten Lebensbedingungen.

00:11:50: ,752 Vũ Thị Hoàng Hà: Meine Freundin hatte dort gelebt und sie hat mir erzählt, so richtige Baracke und sehr kalt.

00:11:57: ,380 Katharina Alexander: Und auch die Arbeitsbedingungen sind in der Regel ziemlich hart.

00:12:00: ,426 Marcel Bois: Oftmals sind die migrantischen Beschäftigten eingesetzt worden für Jobs, die sozusagen die deutschen Beschäftigten nicht so gerne machen wollten. Das bedeutete eben oft körperlich harte Arbeit, das bedeutete aber eben auch Schichtbetrieb, Nachtarbeit und solche Dinge.

00:12:18: ,496 Katharina Alexander: Selbst unter den verschiedenen Gruppen der migrantischen Arbeiter*innen gibt es Hierarchien.

00:12:23: ,513 Vũ Thị Hoàng Hà: Im Vergleich zu vielen anderen oder auch zu meinen mosambikanischen oder angolanischen Kolleginnen und Kollegen, da hatten wir schon sehr großes Glück gehabt mit Wohnbedingungen und mit Arbeitsbedingungen und so.

00:12:40: ,331 Katharina Alexander: Es gibt in der DDR zwar offiziell Gewerkschaften, die setzen sich aber nicht gerade für die Rechte der Arbeiter*innen ein und vor allem nicht für die der migrantischen.

00:12:49: ,381 Marcel Bois: Mit der Etablierung der DDR wird der der FDGB in Ostdeutschland im Prinzip zu einer Staatsgewerkschaft. Also, der spielt nicht die Rolle, die Gewerkschaft in der Bundesrepublik spielt. Also vor allen Dingen spielt er nicht die Rolle als Interessenvertretung von Arbeitnehmer*innen, weil in der DDR es offiziell sozusagen kein Interessenskonflikt zwischen Betriebsleitung und Beschäftigten gab.

00:13:20: ,467 Katharina Alexander: Trotzdem ist die Mitgliederzahl auch unter den ausländischen Arbeiter*innen ziemlich hoch. Kurz vor dem Fall der Mauer sind fast 98% der Vertragsarbeiter*innen Mitglieder in Gewerkschaften. Bringen tut ihnen das allerdings wenig.

00:13:33: ,233 Marcel Bois: Natürlich gab es eben auch Proteste gegen Arbeitsbedingungen, aber die waren, soweit ich weiß, selten erfolgreich und oftmals haben sie dann eben damit geendet, dass den Beschäftigten gedroht wurde oder es zum Teil umgesetzt wurde, dass sie das Land verlassen müssen.

00:13:51: ,140 Katharina Alexander: Kurz gesagt: wer protestiert, wird abgeschoben.

00:13:55: ,267 *Musik*

00:13:59: ,844 Und auch wer sich anderweitig nicht an die Regeln hält. Eine der Regeln lautet: Frauen, die schwanger werden, müssen entweder abtreiben oder das Land verlassen.

00:14:08: ,957 Vũ Thị Hoàng Hà: Zum Glück, in meiner Gruppe waren wenige Schwangerschaftunterbrechungen. Ich sage, das war auch in anderen Gruppen schwieriger, weil Männer als Dolmetscher meistens und keine Frauen. Und dann, natürlich haben dann die Frauen auch Scham und die konnten nicht bei den Männern Bescheid sagen, dass die sagen, ich brauche dann die Pille oder so. Und daher, wir sprachen damals offiziell auch nie darüber, das war tabu, ja. Und besonders, wenn du dann verheiratet bist und du wolltest Verhütungsmittel haben, das war dann nicht so moralisch, nicht so gut. Und deshalb, ich sage dann, ich bin immer so froh, weil ich dann eine Frau war und ich habe dann versucht, den Frauen so beizustehen und dann so mit vielen mitgefühlt und so. Und da konnte ich in dem Fall auch vielen Frauen dann auch helfen.

00:15:09: ,014 Katharina Alexander: In ihrer Rolle als Dolmetscherin versucht Vũ Thị Hoàng Hà, die anderen Frauen in ihrer Gruppe zu informieren und aufzuklären. Sie unterstützt sie auch dabei, sich die Pille verschreiben zu lassen. Trotz all der Einschränkungen in ihren Freiheiten, erinnert sich Vũ Thị Hoàng Hà auch an schöne Momente aus ihrer Zeit in der DDR.

00:15:25: ,643 Vũ Thị Hoàng Hà: Für uns ist dann das Leben hier im Vergleich zu dem Leben so im Krieg und nach dem Krieg. Und dann, das war schon gut. Und deshalb, wir haben viel Kraft, um diese Schwierigkeiten im Leben zu überwinden. Wir haben viel im Wohnheim gefeiert. Im Keller hatten wir einen Raum, so wie Gemeinschaftsraum. Da genug Plätze zum Sitzen und Fernsehen und da konnten wir immer feiern. Das war für uns, da kann man dann dieses Heimweh überwinden.

00:16:01: ,577 Katharina Alexander: Und dann also dieser 9. November 1989. Die Mauer ist offen. Schon in den Wochen davor bemerkt Vũ Thị Hoàng Hà Veränderungen in ihrem Betrieb.

00:16:12: ,380 Vũ Thị Hoàng Hà: Viele Kolleginnen und Kollegen waren auf einmal dann weg, ja, verschwunden. Da wurde gesagt, ja, die sind dann zum Urlaub nach Ungarn gefahren.

00:16:23: ,579 Katharina Alexander: Und von Ungarn aus versuchen sie, sich nach Westdeutschland abzusetzen.

00:16:27: ,850 Marcel Bois: Wir haben halt im Jahr 89/90 die Situation, dass sich insgesamt natürlich im Osten wirtschaftlich total viel verändert, weil ganz viele der Betriebe, die bis jetzt bestanden haben, anfangen, sozusagen ihre Beschäftigten entlassen zu müssen, nicht weiter existieren. Es entsteht ein enormer Druck auf die Beschäftigten und das hat zur Folge, dass oftmals in den Betrieben sich Beschäftigte gegen ihre migrantischen Kollegen wenden und auch sagen, dass sie sozusagen, wenn jetzt hier Leute entlassen werden, dass natürlich dann eben diejenigen aus Vietnam, diejenigen aus Kuba, aus Mosambik entlassen werden sollen.

00:17:15: ,955 Katharina Alexander: Einige Belegschaften organisieren sogar Demonstrationen, um durchzusetzen, dass ihren migrantischen Kolleg*innen gekündigt wird.

00:17:22: ,840 Marcel Bois: Es gibt eben Betriebsleitungen, die, obwohl es sozusagen staatlicherseits nicht gewollt ist, einfach die Leute entlassen oder sogar deren Heimführung organisieren. Also wir erleben sozusagen auf dieser betrieblichen Ebene schon ziemlich starken Rassismus im Jahr 1989 und vor allen Dingen 1990 dann.

00:17:44: ,340 Katharina Alexander: Der Vertrag von Vũ Thị Hoàng Hà geht eigentlich noch bis 1992.

00:17:49: ,284 Vũ Thị Hoàng Hà: Aber unser Betrieb hat uns schon, ich glaube, im Juni 1990 gekündigt. Also der ganze Betrieb, also alle Vietnames*innen gekündigt. Also wir waren die Ersten, die gekündigt wurden.

00:18:05: ,173 *Musik*

00:18:08: ,371 Katharina Alexander: Und so verlieren innerhalb weniger Monate fast alles Vertragsarbeiter*innen ihre Arbeit. Die BRD bietet ihnen an: ihr bekommt 3.000 DM von uns und wir zahlen euch das Flugticket nach Hause. Dafür reist ihr so schnell wie möglich aus.

00:18:23: ,581 Marcel Bois: Viele gehen natürlich freiwillig, weil sie eben den Job verloren haben. Zum Teil sind es auch die Entsendeländer, die sie dann auch heimholen. Und wenn sie es nicht machen, dann hatten sie natürlich das Problem, dass sie ab 1991 unter das westdeutsche Ausländergesetz gefallen sind. Und dieses Gesetz sah vor, dass man im Land bleiben konnte, wenn man mindestens acht Jahre dort war. Aber fast keiner der Vertragsarbeiter und Vertragsarbeiterinnen war so lange in der DDR, weil diese Verträge in der Regel viel kürzer waren. Und das bedeutete, man verlor eben auch automatisch den Aufenthaltsstatus, was wiederum bedeutete für diejenigen, die nicht ausgereist sind, dass sie sich sozusagen in der Illegalität dann in Deutschland aufgehalten haben.

00:19:14: ,391 Katharina Alexander: Auch Vũ Thị Hoàng Hà bereitet sich darauf vor, Deutschland zu verlassen.

00:19:17: ,771 Vũ Thị Hoàng Hà: Ich habe zuerst auch angemeldet für diese Rückreise, weil ich sagte, was soll ich hier machen? Und dann wusste ich, okay, dieses andere System einmal, ich wusste überhaupt nicht, wie funktioniert das. Und weil wir auch keinen Vertrag mit diesem Land hatten, sondern mit der DDR.

00:19:39: ,689 Katharina Alexander: Doch manche Vertragsarbeiter*innen erleben in ihrer Heimat eine böse Überraschung. Den etwa 15.000 Menschen, die aus Mosambik in die DDR kamen, wurde erzählt, dass sie etwa 60% ihres Lohns erst nach der Rückkehr in ihr Heimatland bekommen sollen.

00:19:52: ,343 David Macou: Erstens war so, dass man hat uns nach Hause so schnell wie möglich geschickt, aber ohne unseren Lohn, den wir in zwölf Jahren erarbeitet haben. Ohne Entschädigung, ohne Erklärung, warum bekommen wir unseren Lohn nicht.

00:20:13: ,257 Katharina Alexander: Das ist David Macou in einem Interview der Bundesstiftung Aufarbeitung. Er kam mit 19 aus Mosambik in die DDR und hat zwölf Jahre lang in Hoyerswerda in einem Tagebau gearbeitet.

00:20:23: ,819 David Macou: Kamen wir nach Hause in Mosambik und unsere Regierung sagt: alles, was ihr in Deutschland gemacht habt, ist in Deutschland geblieben. Eure Sozialversicherung, eure Rente, und so weiter. Ist nicht hier, ist in Deutschland. Und haben wir Deutschland geschrieben und Deutschland hat gesagt: Nein, wir haben alles nach Mosambik überwiesen.

00:20:47: ,756 Katharina Alexander: Ohne Absprache mit den Vertragsarbeiter*innen hatte die DDR mit Mosambik einen Deal ausgehandelt: 60% der Löhne hat die DDR einbehalten und mit den Staatsschulden Mosambiks verrechnet. Und die Madgermanes, wie die ehemaligen Vertragsarbeiter*innen in Mosambik genannt werden, gehen leer aus.

00:21:03: ,976 David Macou: Bis heute sind schon 34 Jahre dieses Hin und Her, ist noch nicht richtig erklärt. Aber was ich immer verlange, dass ich so schnell wie möglich in meine Hand bekommen kann, was ich gearbeitet habe in zwölf Jahren. Meinen Lohn, die Entschädigung, weil man muss uns Entschädigung geben.

00:21:25: ,768 Katharina Alexander: Nach 1990 zahlt die Bundesregierung dann pauschal 75 Millionen D-Mark an Mosambik. Das Geld soll an die ehemaligen Vertragsarbeiter*innen weitergegeben werden. Doch bei den Betroffenen kommt praktisch nichts davon an.

00:21:39: ,356 Evelyn Zupke: Ich denke, dass Deutschland eine historische Verantwortung hat gegenüber den ehemaligen mosambikanischen Vertragsarbeitern, weil das Unrecht eben auf deutschem Boden geschehen ist.

00:21:48: ,163 Katharina Alexander: Das sagte Evelyn Zupke, die SED-Opferbeauftrage, letztes Jahr in einem Interview mit der Deutschen Welle. Sie fordert:

00:21:54: ,904 Evelyn Zupke: Was man jetzt noch tun kann, ist aus meiner Sicht, dass man guckt, in welcher Höhe kann man eine pauschale Einmalzahlung an die ehemaligen Vertragsarbeiter geben, damit sie auch diese Anerkennung, diese Würdigung noch mal erfahren? Und viele von denen sind ja auch schon tot oder leben eben in prekären Situationen.

00:22:14: ,679 Katharina Alexander: Die Bundesregierung sieht Mosambik in der Verantwortung, das Problem zu lösen. Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes sagte der Tagesschau im September 2024:

00:22:23: ,219 Sprecher: Es ist Aufgabe der mosambikanischen Regierung, das jetzt mal in erster Linie zu adressieren.

00:22:28: ,870 Katharina Alexander: David Macou fühlt sich von beiden Ländern, von Deutschland und Mosambik, im Stich gelassen. Er kämpft weiterhin dafür, dass er den Lohn für seine verrichtete Arbeit bekommt.

00:22:38: ,588 *Musik*

00:22:41: ,820 Katharina Alexander: Wir sind inzwischen in den 90ern angekommen. Deutschland ist offiziell wiedervereinigt. Von den knapp 90.000 Vertragsarbeiter*innen, die vor der Wende noch in der DDR arbeiten, sind Im Sommer 1991 nur noch knapp 7.000 beschäftigt. Und wer keinen Job hat, muss das Land verlassen oder ist illegal. Gleichzeitig nimmt der Rassismus immer weiter zu.

00:23:05: ,923 Vũ Thị Hoàng Hà: Auch wenn ich in der DDR-Zeit einige Sachen erlebt habe, aber das ist nicht zu vergleichen mit dem, was nach der Wende passierte.

00:23:17: ,196 *Musik*

00:23:19: ,114 Katharina Alexander: Im September 1991 greift eine Gruppe aus rechtsextremen Jugendlichen in Hoyerswerda einen vietnamesischen Zigarettenverkäufer an. Er flüchtet sich in eine der Unterkünfte, in denen ehemalige Vertragsarbeiter*innen leben. Die Rechtsextremen verfolgen ihn und belagern das Haus. Tagelang stehen sie vor der Unterkunft, werfen mit Steinen und randalieren. Zeitweise wächst die Menge auf 500 Menschen an. Als die Polizei den Bereich vor dem Haus räumt, ziehen die Rechtsextremen weiter zu einer nahegelegenen Unterkunft für Geflüchtete und greifen die Menschen, die dort leben mit Molotowcocktails und Stahlkugeln an. 32 Menschen werden verletzt.

00:24:01: ,509 Mob: "Deutschland den Deutschen, Ausländer raus.“

00:24:03: ,459 Katharina Alexander: Knapp ein Jahr später, am 22. August 1992 belagern Rechtsradikale das Sonnenblumenhaus, einen Plattenbaum in Rostock-Lichtenhagen. Dort leben Ayslsuchende. Der Mob beschimpft und bedroht die Anwohnenden, wirft mit Steinen und Molotowcocktails. Die Polizei steht tatenlos daneben. Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen stehen sinnbildlich für die Eskalation der rassistischen Gewalt in Deutschland nach der Wiedervereinigung, aber auch für das Wegschauen der Politik. Die Betroffenen bleiben oft schwerst traumatisiert zurück. Auch Vũ Thị Hoàng Hà erlebt damals Anfeindungen auf der Straße. Wenn sie unterwegs ist, setzt sie alles daran, nicht mit der Straßenbahn fahren zu müssen. Im Dunkeln geht sie nicht mehr alleine raus.

00:24:47: ,947 Vũ Thị Hoàng Hà: Das war sehr schrecklich für mich, also ich glaube, dann viel Zeit brauche ich, um das zu überwinden, weil ich habe noch nie sowas erlebt und Menschenhass und dann körperliche Angriffe und dann Beschimpfungen.

00:25:04: ,069 *Musik*

00:25:06: ,202 Katharina Alexander: Während die Politik schweigt, sind andere Gruppen laut und verurteilen die rassistische Gewalt. Auch die Gewerkschaften engagieren sich dagegen.

00:25:12: ,810 Marcel Bois: Das führt dann eben dazu, dass es in den 80er Jahren sozusagen eine relativ klare Haltung der Gewerkschaften gibt, also dass die migrantischen Kolleginnen und Kollegen als gleichberechtigte Gewerkschaftsmitglieder angesehen werden und vor allen Dingen die Gewerkschaften auch sehr deutlich sich positionieren gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Also, es gibt so eine große Kampagne in den 80er Jahren, die heißt, mach meinen Kumpel nicht an, wo die Gewerkschaften da halt klar Position beziehen.

00:25:43: ,868 Katharina Alexander: Und wie sieht es in Ostdeutschland aus? Die DDR-Gewerkschaften lösen sich auf und fusionieren mit westdeutschen. Aber nicht alle Arbeitnehmer*innen treten einer Gewerkschaft bei. Viele sind arbeitslos und haben durch ihre schlechten Erfahrungen mit dem FDGB generell das Vertrauen in Gewerkschaften verloren. Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften haben also ordentlich damit zu tun, in den Neuen Bundesländern Organisationsstrukturen aufzubauen, Mitglieder zu werben und diejenigen, die beitreten, zu unterstützen. Aber eine Gruppe fällt dabei ziemlich unter den Tisch.

00:26:17: ,539 Marcel Bois: Unser Eindruck war, dass zwar die Gewerkschaften in der Frage Antirassismus sehr klare Positionen bezogen haben, immer wieder sich auch an den Protesten, die es in den frühen 90ern ja auch gab, beteiligt haben, aber dass sie sich relativ wenig um die Belange der Vertragsarbeiter*innen gekümmert haben.

00:26:44: ,220 Katharina Alexander: Dazu, wie die Vertragsarbeiter*innen nach der Wende von den Gewerkschaften wahrgenommen wurden, gibt es bisher fast keine Forschung. Marcel Bois hat aber alte Unterlagen gewälzt, um diese Frage besser beantworten zu können.

00:26:56: ,291 Marcel Bois: Also insofern haben wir hier so ein bisschen Grundlagenforschung gemacht.

00:27:00: ,638 Katharina Alexander: Im DGB wird zu Beginn der 90er schon darüber diskutiert, wie man mit den migrantischen Arbeiter*innen aus der ehemaligen DDR umgehen soll.

00:27:08: ,128 Marcel Bois: In den Akten des DGB haben wir Dokumente gefunden, dass sozusagen die Abteilung ausländischer Arbeitnehmer zumindest so ein bisschen beraten hat, geschaut hat, was passiert da, dass man sagt, man muss die irgendwie im Blick behalten. Aber jetzt nicht groß irgendwie was für sie unternommen hat.

00:27:29: ,706 Katharina Alexander: Karl-Heinz Göbels, Leiter der Abteilung „Ausländische Arbeitnehmer“, war nach den Recherchen von Marcel Bois und seinem Kollegen einer der wenigen, der fand, die Gewerkschaften sollten sich mit den ehemaligen Vertragsarbeiter*innen solidarisieren.

00:27:42: ,981 O-Ton Karl-Heinz Göbels: Ich meine, dass den vietnamesischen Arbeitnehmern in der ehemaligen DDR übel mitgespielt wird. Im Rahmen unserer Möglichkeiten sollten wir ihnen helfen.

00:27:51: ,781 Katharina Alexander: Gleichzeitig sprach sich die Abteilung „Ausländische Arbeitnehmer“ gegen ein generelles Bleiberecht aus. Damit schloss sie sich der Haltung der Bundesregierung an.

00:28:00: ,883 Marcel Bois: Dass es eben kein zweckungebundenes Bleiberecht geben sollte und dabei dann eben übersehen hat, dass das nämlich bedeutete, wenn man hier sozusagen den Arbeitsplatz verliert, das im Prinzip sofort abgeschoben würde.

00:28:14: ,602 Katharina Alexander: Es gibt aber auch Ausnahmen.

00:28:16: ,721 Marcel Bois: Also welche Gewerkschaft sich so ein bisschen für die Interessen der migrantischen Beschäftigten in der ehemaligen DDR eingesetzt hat, war die IG Metall. Die hat zum Beispiel 1990 so einen kleinen Ratgeber geschrieben, wo sie so rechtliche Hinweise gegeben hat für die ehemaligen Vertragsarbeiter*innen. Und sie hat auch zugesehen, diese Beschäftigten innerhalb der Gewerkschaft zu repräsentieren. Also im November '91 haben sie den sogenannten Ausländerausschuss für speziell Ostdeutschland gewählt, dem dann ein vietnamesischer Ingenieur und eine ungarische Metallarbeiterin angehört haben.

00:28:58: ,362 Katharina Alexander: Außerdem wird in der IG Metall-Presse auch immer wieder über die prekären Lebensbedingungen der ehemaligen Vertragsarbeiter*innen berichtet, die in Deutschland geblieben sind. Davon bekommt Vũ Thị Hoàng Hà damals aber nichts mit. Sie bereitet sich auf ihre Rückreise nach Vietnam vor.

00:29:13: ,889 Vũ Thị Hoàng Hà: Dann kam irgendwann an einem Tag, das war eine Veranstaltung in einer Kirche, in der katholischen Kirche und da der Hinweis von einer von der Betreuerin, also die die Pförtnerin macht. Und sie hat irgendwie gewusst und sie hat gesagt, du kennst dann die Sprache, du sollst dann hingehen, vielleicht gibt es dann Informationen für deine Landsleute. Und da war ich gegangen.

00:29:39: ,785 Katharina Alexander: Bei dieser Veranstaltung gibt es auch für die Besucher*innen die Möglichkeit, von ihren Erfahrungen zu erzählen.

00:29:44: ,706 Vũ Thị Hoàng Hà: Und dann ging es darum, dass wie dann weiter mit uns und auch diesem Ausländerhass. Wie können wir dann was dagegen machen? Und da war ich auch irgendwie dann auch zum Mikro gekommen und habe auch was gesagt.

00:30:00: ,573 Katharina Alexander: Eine Person, die auch bei dieser Veranstaltung ist, ist die ehemalige Ausländerreferentin von Sachsen-Anhalt.

00:30:05: ,747 Vũ Thị Hoàng Hà: Danach kam die Referentin zu mir und sagte, also du, wie sieht das aus? Und ich habe gesagt, ich habe schon angemeldet für die Rückreise. Und dann hat sie gesagt, nein, du sollst dann hierbleiben, weil tatsächlich würden einige Frauen bleiben. Und sie hatte damals eine Vorstellung, dass diese Frauen vielleicht zur Prostitution kommen und so und brauchen dann Betreuung und so und ich als Dolmetscherin oder Betreuerin dann geeignet bin dafür. Und sie hat mir versprochen, ein Angebot für Umschulung, dass ich dann neu studieren kann und dann diesen Job mache. Und dann habe ich überlegt, okay, das wäre auch was für mich, wenn Arbeit da ist.

00:30:53: ,986 Katharina Alexander: In den nächsten Jahren arbeitet Vũ Thị Hoàng Hà an verschiedenen Stellen als Dolmetscherin, erst für das Zollfahndungsamt, später für die Arbeiterwohlfahrt im Bereich Migration. Und sie möchte den Menschen helfen, die auch in Deutschland geblieben sind.

00:31:06: ,878 Vũ Thị Hoàng Hà: 1992 hatten wir auch einen Verein gegründet und mit diesem Verein haben wir auch den Leuten viel helfen können. Also wir haben dann richtig wie ein Beratungszentrum gemacht, mit vielen Infoveranstaltungen, viel also auch einzelner Begleitung und Beratung.

00:31:26: ,272 Katharina Alexander: Der Verein heißt „Deutsch-Vietnamesischer Freundschaftsverein Magdeburg e. V.“ und besteht bis heute. Er war eine der ersten Migrant*innen-Organisationen in den ostdeutschen Bundesländern.

00:31:35: ,269 Vũ Thị Hoàng Hà: Wir haben also Fördergelder bekommen für diese Beratungsarbeit.

00:31:40: ,196 Katharina Alexander: Und diese Gelder kommen zu einem kleinen Teil auch von den Gewerkschaften.

00:31:44: ,195 Vũ Thị Hoàng Hà: Da war auch ein Kollege von der Gewerkschaft DGB. Und der hat uns auch gesagt, er hat auch ein Budget, so kleines, so für einmal im Jahr 5000. Und da können wir dann auch beantragen und damit können wir auch Sprachkurse organisieren für unsere Landsleute. Das haben wir auch gemacht und ich glaube, das ging auch mehrere Jahre.

00:32:13: ,050 *Musik*

00:32:15: ,375 Katharina Alexander: Dazu, wie sich die Gewerkschaften nach der Wende gegenüber den ehemaligen Vertragsarbeiter*innen verhalten haben, gibt es bis heute eher wenig Informationen. Marcel Bois schätzt das so ein:

00:32:24: ,837 Marcel Bois: Ich würde sagen, dass die Gewerkschaften sich sehr ambivalent verhalten haben. Also es gab eben diese Einzelbeispiele, Göbels, IG Metall, die zumindest die Vertragsarbeiter*innen irgendwie auf dem Schirm hatten, die wussten um ihre Situation, sich aber, oder die Mehrheit der Gewerkschaften sich aber so, wie man es im Moment sieht, nicht wirklich für sie eingesetzt hat. Und was natürlich auch mit dieser Gesamtsituation zu tun hat, also dass die Gewerkschaften natürlich auch erst mal versucht haben, Fuß überhaupt im Osten zu fassen und vielleicht auch die Mehrheit der Beschäftigten überhaupt zu erreichen.

00:33:06: ,108 Katharina Alexander: Ich wollte wissen, was die Gewerkschaften selbst dazu sagen. Darum habe ich mit Vera Egenberger gesprochen. Sie arbeitet im DGB im Referat Migration, Rechtsextremismus und Antirassismuspolitik.

00:33:17: ,657 Vera Egenberger: Wir sind auf der Bundesebene eben quasi so ein Counterpart zu den bundespolitischen Institutionen, die im Bereich Migration, und den Bereich decke ich eben mit ab, oder Asyl, dann Stellungnahmen aus der gewerkschaftlichen Perspektive zu formulieren und einzuschätzen, ob das dann eben für Arbeitnehmende zielführend ist.

00:33:35: ,538 Katharina Alexander: Vera Egenberger beschäftigt sich also damit, ob die Migrationspolitik der Bundesregierung gut für Arbeitnehmer*innen und für die Demokratie ist. Ich habe sie gefragt, ob Vertragsgarbeiter*innen in ihrer Arbeit eine Rolle spielen.

00:33:47: ,802 Vera Egenberger: Also ich selber bin jetzt seit zehn Jahren regelmäßig auch beim DGB in dem Bereich tätig und wir haben in dem Zeitraum zu Vertragsarbeiter*innen eigentlich nicht mehr gearbeitet.

00:33:58: ,144 Katharina Alexander: Das liegt ihrer Einschätzung nach aber auch daran, dass der Status “Vertragsarbeiter*in” inzwischen überholt ist.

00:34:04: ,148 Vera Egenberger: Das ist ja jetzt schon über 30 Jahre her und seit eben deren Status sich geändert hat und sie quasi als reguläre Arbeitskräfte in Deutschland leben und tätig sind, machen wir diesen Rückblick eigentlich nicht mehr, sondern dann behandeln wir sie wie ganz normale Bürger, wenn sie schon Deutsche sind oder als migrantische Arbeitnehmende und dann sind sie für uns Arbeitnehmende, und definieren diese Kategorie, die es damals natürlich ganz sichtbar gab, für uns heute in der politischen Arbeit eigentlich nicht mehr.

00:34:33: ,596 Katharina Alexander: Marcel Bois vermutet, dass es einen weiteren Grund dafür gibt, dass viele Gewerkschaften das Thema heute eher weniger auf dem Schirm haben. Und zwar, dass sie wenige Mitglieder haben, die von dieser Zeit erzählen können. Und als ich Vũ Thị Hoàng Hà frage, ob sie Vietnames*innen in Deutschland kennt, die in Gewerkschaften organisiert sind, lacht sie nur.

00:34:50: ,347 Vũ Thị Hoàng Hà: Die Mehrheit der vietnamesischen Menschen sind Selbstständige. Die sind auch in keiner Gewerkschaft oder so.

00:34:57: ,907 Katharina Alexander: Ich wollte von Vũ Thị Hoàng Hà noch wissen, ob sie findet, dass Deutschland sich ausreichend mit der Geschichte und den Schicksalen der Vertragsarbeiter*innen auseinandersetzt.

00:35:05: ,389 Vũ Thị Hoàng Hà: Wirklich nicht. Ich glaube dann, für die vielen Deutschen, also besonders Ostdeutschen, die sagten, wir kennen die Vietnamesen, die sind schon sowieso immer da, aber genau wissen die nicht. Die wissen zwar, dass wir dann hier gekommen sind auch zur Arbeit und so, aber wie wir gelebt haben und so, wie damals die Regelungen waren, haben die nicht mitbekommen.

00:35:30: ,236 Katharina Alexander: Für die Zukunft wünscht sie sich, dass die Menschen in Deutschland offener auf andere zugehen und Integration nicht immer nur als Aufgabe derjenigen angesehen wird, die neu nach Deutschland kommen.

00:35:39: ,468 Vũ Thị Hoàng Hà: Ich weiß, viele Migrant*innen wünschen, dass die dann mit den Deutschen irgendwo treffen und ganz als normale Menschen so wie Nachbarn dann feiern. Oder wenn ich, wie ich mir dann vorstelle, ist egal, ob neben mir eine vietnamesische Familie lebt oder eine deutsche oder eine afrikanische Familie oder eine syrische Familie, ist mir egal. Also sind alle Menschen, alle Familien, Menschen und so. Warum geht das nicht? Ja, das ist so. Eigentlich, man muss schon Gedanken machen, dass es für das Zusammenleben kommt immer von allen Seiten und nicht von einer Seite.

00:36:23: ,057 *Musik*

00:36:26: ,972 Katharina Alexander: Menschen, die als Vertragsarbeiter*innen in die damalige DDR gekommen sind, mussten oft unter menschenunwürdigen Verhältnissen leben und arbeiten. Sie wurden vom Rest der Bevölkerung abgeschottet, rassistisch angefeindet und kämpfen zum Teil bis heute für eine faire Entlohnung ihrer Arbeit. In der Zeit nach der Wiedervereinigung wurden sie von vielen Institutionen alleingelassen. Umso wichtiger ist es, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und sich heute laut gegen Rassismus und Diskriminierung zu stellen.

00:36:56: ,129 *Musik*

00:37:00: ,545 Das war Geschichte wird gemacht. Abonniert den Podcast, um keine Folge zu verpassen. Und wenn euch der Podcast gefällt, freuen wir uns sehr, wenn ihr uns eine Bewertung dalasst. Wir haben übrigens noch einen Podcast-Tipp von hauseins für euch: "Halbe Katoffl". Darin spricht Host Frank Joung mit Menschen mit Migrationsgeschichte über ihr Leben und die Themen, die sie beschäftigen. Es geht um Identität, Stereotype und Integration, aber auch darum, wie es ist, als Reporter aus einem Kriegsgebiet zu berichten, wie man gute Filme macht oder was WLan mit einem Schweigekloster zu tun hat. Hört doch mal rein! Den Link findet ihr in den Shownotes. „Geschichte wird gemacht” ist eine Produktion von hauseins im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung. Ich war heute eure Host: Katharina Alexander. Redaktion: Katharina Alexander für hauseins und Dieter Pougin für die Hans Böckler Stiftung. Produktionsleitung: Stefanie Groth. Schnitt und Sounddesign: Joscha Grunewald.

00:37:54: ,090 *Musik*

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