“Hoch die Solidarität”: Frauen im Kampf um ein mitbestimmtes Leben und Arbeiten

Shownotes

„Geschichte wird gemacht” ist eine Produktion von Hauseins im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung.

Host: Maria Popov

Redaktion: Stefanie Groth für Hauseins und Dieter Pougin für die Hans Böckler Stiftung

Produktionsleitung: Melanie Geigenberger

Schnitt und Sounddesign: Joscha Grunewald

Rainer Fattmann: „Pionierinnen der Mitbestimmung“ https://www.hugo-sinzheimer-institut.de/faust-detail.htm?sync_id=HBS-007948

Uwe Fuhrmann: Feminismus in der frühen Gewerkschaftsbewegung (1890-1914). https://www.boeckler.de/de/faust-detail.htm?sync_id=HBS-008062, Die Strategien der Buchdruckerei - HilfsarbeiterInnen um Paula Thiede https://www.boeckler.de/de/faust-detail.htm?sync_id=HBS-008062

Uwe Fuhrmann: Frauen in der Geschichte der Mitbestimmung - Hugo Sinzheimer Institut für Arbeitsrecht (hugo-sinzheimer-institut.de) https://www.hugo-sinzheimer-institut.de/faust-detail.htm?sync_id=HBS-008756

Hedwig Richter: “Warum finden Frauen in der Demokratiegeschichte so wenig Beachtung?” https://www.boeckler.de/download-proxy-for-faust/download-pdf?url=http%3A%2F%2F217.89.182.78%3A451%2Fabfrage_digi.fau%2Fp_ek_ap_12_2020.pdf%3Fprj%3Dhbs-abfrage%26ab_dm%3D1%26ab_zeig%3D8870%26ab_diginr%3D8482

Podcast “Systemrelevant”: „Pionierinnen der Mitbestimmung“ https://www.hugo-sinzheimer-institut.de/podcasts-34753-Pionierinnen-der-Mitbestimmung-30655.htm

Es gibt keinen Grund für die Rechtlosigkeit der Frauen - Hans-Böckler-Stiftung (boeckler.de) https://www.boeckler.de/de/magazin-mitbestimmung-2744-es-gibt-keinen-grund-fuer-die-rechtlosigkeit-der-frauen-21470.htm

Mitbestimmungsportal - Mehr Geschlechtergerechtigkeit mit Mitbestimmung https://www.mitbestimmung.de/html/mehr-geschlechtergerechtigkeit-mit-44468.html

"Grundsätzlich" gleichberechtigt | Weimarer Republik | bpb.de https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/268362/grundsaetzlich-gleichberechtigt/

Demokratiegeschichte ohne Frauen? | Frauen wählen | bpb.de https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/277329/demokratiegeschichte-ohne-frauen/?p=all

Transkript anzeigen

00:00:00: *Demonstrationsrufe und Musik*

00:00:23: Maria Popov: Hey, ich bin Maria Popov und ihr hört „Geschichte wird gemacht“.

00:00:37: O-Ton: Ich erteile das Wort der Frau Abgeordneten Juchacz.

00:00:41: Maria Popov: Ohne die historische Bedeutung des Augenblicks hervorzuheben, kündigt der Präsident der verfassungsgebenden Nationalversammlung am 19.02.1919 in Weimar einen neuen Redebeitrag an. Und dann betritt erstmals eine Frau das Rednerpult im ersten demokratisch gewählten Parlament. Es ist die SPD-Abgeordnete Marie Juchacz. Mit der bis dahin ungewöhnlichen Anrede, „meine Herren und Damen“, löst sie laut Protokoll Heiterkeit im hohen Haus aus und sie fährt fort.

00:01:20: O-Ton: Ich möchte hier feststellen, was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit. Sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist. Und ich betrachte es als eine Selbstverständlichkeit, dass die Frau als gleichberechtigte und freie Staatsbürgerin neben dem Manne stehen wird.

00:01:47: Maria Popov: Klare Worte. Marie Juchacz ist die erste Frau, die eine Rede vor dem deutschen Parlament halten darf. An diesem 19.02.1919. Die SPD-Abgeordnete aus Potsdam erhielt bei ihrer Rede viel Zustimmung und Beifall aus den eigenen Reihen, doch der Präsident der NationalversammlungKonstantin Fehrenbach musste auch mit der Glocke eingreifen.

00:02:16: *Glockenschläge*

00:02:19: O-Ton: Die Unterhaltung wird hinter dem Präsidialtische mit einer derartigen Lebhaftigkeit geführt, dass es dem Präsidium nicht möglich ist, die Rednerin zu verstehen. Ich kann das nicht weiter dulden. Ich bitte, hier Ruhe zu halten.

00:02:40: Maria Popov: Was Marie Juchacz selbstbewusst als Selbstverständlichkeit beschreibt, ist tatsächlich das Ergebnis eines langen Kampfes für die Rechte von Frauen in Deutschland. Einen Kampf, den Marie Juchacz hat und mit ihr tausende andere Frauen vor allem in der Arbeitswelt. Sie alle sind die Pionierinnen der Mitbestimmung und ohne ihren Kampf würde heute vielleicht alles ganz anders aussehen.

00:02:25: ?Mann?: Diejenigen Frauen, die heute politisch und gewerkschaftlich tätig sind, stehen alle auf den Schultern der Frauen, die das am Ende des 19. Jahrhunderts und im führen 20. Jahrhundert durchgesetzt haben. Also von daher muss man sagen, dass Frauen überhaupt am öffentlichen Leben teilnehmen und das ja heute völlig selbstverständlich im öffentlichen Leben tätig sind, das ist eines der Ergebnisse dieser Jahre.

00:02:51: *Musik*

00:02:56: Maria Popov: Im Kampf der Frauen um ein mitbestimmtes Leben und Arbeiten spielen die Gewerkschaften eine enorm wichtige Rolle. Das sind die Räume, in denen sich die Frauen schon früh organisieren und politisch aktiv werden, um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen zu erkämpfen. Dabei haben es Frauen schwere als ihre männlichen Kollegen, denn sie müssen neben ihrem politischen und gewerkschaftlichen Engagement Familien und Erwerbsarbeit bewerkstelligen. Noch dazu werden sie in ihrem politischen Engagement nicht vorbehaltlos von Männern unterstützt. Das Gegenteil ist eher der Normalfall. Nicht nur die ersten Parlamentarierinnen wie Marie Juchacz müssen diese Erfahrung machen, sondern auch die ersten Betriebsrätinnen. Und trotz des demokratischen Aufbruchs in der Weimarer Republik haben Frauen auch in den Gewerkschaften einen schweren Stand. Sie wurden zum Beispiel kaum zu Gewerkschaftskongressen delegiert oder waren nur geringfügig in der haupt- und ehrenamtlichen Funktionärsebene zu finden. Aber sie lassen sich dadurch nicht davon abbringen, sich weiterhin besonders für die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen von Frauen einzusetzen. Viele ihrer Themen sind noch heute ziemlich aktuell, wie zum Beispiel die Lohnungleichheit oder die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Wie ihre Kämpfe aussahen, welche konkreten Forderungen die Frauen hatten und wie es gegenwärtig um die Gleichberechtigung von Frauen am Arbeitsplatz und in Gewerkschaften steht, darum geht es heute.

00:04:19: *Musik*

00:04:35: Isabell Senf: Wenn wir in einer Berufsschule zum Beispiel, irgendeiner wurde blöd angemacht oder so, dann habe ich mich dazwischengestellt.

00:04:41: Maria Popov: Das ist Isabell Senf. Die 36-Jährige ist gelernte Zustellerin bei der Post. Schon in ihrer Ausbildung bei der Deutschen Post AG in Halle ist sie schnell dafür bekannt, kein Blatt vor den Mund zu nehmen.

00:04:53: Isabell Senf: Im Zustellsaal gab es Sachen, die irgendwie nicht gut liefen, dann habe ich gesagt, hier dann kümmere ich mich da mal drum, geh da mal zum Chef vor und sage, wir müssen da mal was richtigstellen. Oder habe auch mit meiner Ausbilderin oftmals Dinge geregelt, wenn die gesagt hat, hier ihr müsst heute mal eine halbe Stunde oder so nachsitzen, irgendwie was nacharbeiten. Da haben wir gesagt, nein machen wir nicht, weil müssen wir ja nicht. Der Mund ist nicht nur zum Essen da, sondern der ist auch da, um Dinge anzusprechen, die ungerecht sind.

00:05:22: Maria Popov: Isabell scheut sich nicht, die Dinge beim Namen zu nennen. Das fällt auch anderen auf und bleibt nicht ohne Folgen für sie.

00:05:30: Isabell Senf: Ich bin damals von meiner Jugend- und Auszubildendenvertretung angesprochen worden und war dann halt Mitglied. Und 2010 waren Wahlen für die JAV. Da haben die zu mir gesagt, ja Isa du hast eine große Klappe, du bist immer auch, wenn so Ungerechtigkeiten dabei sind, dass das gerade gerückt wird, lass dich doch mal aufstellen. Ich wusste gar nicht, wieso, weshalb, warum. Habe das dann gemacht, bin dann gewählt worden und dann nahmen die Dinge seinen Lauf.

00:06:00: *Musik*

00:06:05: Maria Popov: Und dann nahmen die Dinge ihren Lauf, und wie. Für Isabell ist damals also die Arbeit in der Jugend- und Auszubildendenvertretung der Einstieg in die Betriebsratsarbeit. Sie wird zum Mitglied in der JAV, also der Jugend- und Auszubildendenvertretung ihrer Niederlassung gewählt und schafft es wenig später in das konzernweite Gremium der Gesamt-JAV. Ein halbes Jahr vor den Betriebsratswahlen 2014 kommt die Betriebsgruppenvorsitzende auf Isabell zu. Zwei freigestellte Betriebsräte würden ausscheiden, ob sie sich vorstellen könne, als Betriebsrätin zu kandidieren und auch in die Freistellung zu gehen. Isabell kann und wird 2014 voll freigestellte Betriebsrätin bei der Post in der Niederlassung Halle.

00:06:52: Isabell Senf: Ich habe dann gesagt, ja dann will ich mit gutem Beispiel, klingt irgendwie immer bisschen komisch, aber ich sage, dann ist es doch gut, dass wir es endlich mal haben, dass eine junge Kollegin auch es an die Spitze eines Betriebsratsgremiums geschafft hat und dass man sozusagen sich nicht immer hinten anstellen muss und andere Kollegen sagen, ja warte mal noch zehn Jahre und dann ist deine Zeit gekommen.

00:07:13: Maria Popov: Und keine zwei Jahre später wird sie zur Betriebsratsvorsitzenden gewählt, da ist sie 28 Jahre alt und somit die jüngste Betriebsratsvorsitzende, die es bis dato jemals bei der Deutschen Post AG gab. Geplant hatte Isabell das alles gar nicht, aber da sie gewählt wurde, nimmt sie sich der Aufgabe mit Leidenschaft an.

00:07:33: Isabell Senf: Ist ja nicht nur schön, irgendwie eine große Klappe zu haben, sondern es ist irgendwie auch wichtig, sich issen anzueignen und auch das Wissen dann zu vermitteln und auch das gegenüber dem Chef oder der Chefin dann auch durchzusetzen.

00:07:46: Maria Popov: Noch ungewöhnlicher ist, dass Isabell gleich zur freigestellten Betriebsrätin gewählt wurde. Sie kann ihre Arbeitszeit also komplett der Betriebsratsarbeit widmen, damit ändert sich auch ihr Arbeitsleben grundlegend.

00:07:58: Isabell Senf: Als Zustellerin bist du frühmorgens mit den Kollegen zusammen, packst dein Auto oder wenn du Fahrradzustellerin bist dein Fahrrad und dann geht es ab und dann bist du sozusagen auf dich allein gestellt. Und als Betriebsrat ist das ja noch mal was ganz anderes. Da hast du ja viel auch in Beratungen zu tun, mit Kolleginnen und Kollegen oder mit den Kollegen aus dem Betriebsrat und bist eher dann nicht an der frischen Luft, sondern eher in irgendwelchen netten Bürogebäuden oder so.

00:08:23: Maria Popov: Ab und an ist sie aber noch selbst draußen unterwegs und bringt die Post.

00:08:27: Isabell Senf: In den Monaten, wo die Sendungsmenge extrem hoch ist oder wir hohe Personalausfälle haben, dann gehe ich auch noch zustellen, weil ich finde, als Betriebsrätin sollte a) immer bodenständig bleiben und auch b) auch den Job machen. Also wenn ich die Kolleginnen und Kollegen in der Zustellung vertrete, dann will ich das nicht nur theoretisch irgendwie sagen können wie das ist, sondern will wissen wie das praktisch ist.

00:08:52: Maria Popov: Frische Luft gegen Büromief getauscht, das klingt erst mal vielleicht nach keinem so guten Wechsel oder? Aber Isabell feiert ihre Arbeit als Betriebsrätin.

00:09:00: Isabell Senf: Also wenn ich in einem Zustellsaal bin weiß ich nicht, ach wird jetzt die oder die Frage kommen, gibt es dieses oder dieses Anliegen und das macht den Job so interessant und auch vor allen Dingen so spannend und aber auch gleichzeitig herausfordernd. Man bekommt sehr viel Einblick auch in das Leben von Kolleginnen und Kollegen. Man hat ja ein Vertrauensverhältnis mit ihnen. Und da werden Sachen erzählt, die niemandem anderen erzählt werden. Ob es Schicksalsschläge in der Familie ist, finanzielle Notlagen oder Beziehungsbrüche. Also da ist auch die Palette riesengroß. Und auch das ist etwas, wo ich mir sage, das macht den Job eines Betriebsrates auch aus, Vertrauen zu schaffen.

00:09:44: Maria Popov: Und gerade wenn es um das Thema Vertrauen und auch sensible Themen geht, kommt Isabell als Betriebsrätin, also als Frau, eine enorm wichtige Rolle zu.

00:09:53: Isabell Senf: Natürlich ist das Verhältnis von Frau zu Frau ein anderes als von Mann zu Frau zum Beispiel. Da werden Sachen auch besprochen, gesundheitliche Themen zum Beispiel, die dann auch sagen, ja Isaich will lieber mit dir reden als wie mit meinem Vorgesetzten, weil da die Hemmschwelle einfach eine ganz andere ist, als wenn da ein Typ steht oder ein Vorgesetzter steht, wo man sich jetzt vielleicht nicht so gerne öffnen möchte.

00:10:20: Maria Popov: Also ich glaube, mir als Frau wäre es schon wichtig, im Betriebsrat auch eine Frau als Ansprechpartnerin zu haben, das macht schon Sinn oder?

00:10:26: *Musik*

00:10:29: Schauen wir mal kurz auf die Zahlen. Das wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Institut der Hans-Böckler-Stiftung hat 2021 eine Betriebs- und Personalrätebefragung durchgeführt. Demnach besetzen Frauen rund 40 Prozent aller Betriebsratssitze, sie sind als unterrepräsentiert. Die Analysen zeigen aber auch, dass Frauen nicht in allen Betriebsräten ihrem Anteil an der Belegschaft entsprechend vertretend sind. Und auch wenn Frauen das Mehrheitsgeschlecht in der Belegschaft stellen, spiegelt sich dies häufig nicht in ihrem Anteil an Betriebsratssitzen wider. Fazit der Befragung: s ist noch immer nicht normal, dass Männer und Frauen gleichberechtigt im Betriebsrat vertreten sind, geschweige denn als Betriebsratsvorsitzende so wie Isabell noch dazu in so jungen Jahren. Wie hat sie das in den vergangenen Jahren erlebt?

00:11:19: Isabell Senf: Auch bei der Post die Vertretung im Betriebsrat schon sehr männlich dominiert und da war ich schon eine Exotin in der Rolle. Und natürlich hat man auch geguckt und natürlich musste man sich auch den ein oder anderen Spruch mal anhören, aber ich habe das ja vorhin erwähnt, ich bin nicht auf den Mund gefallen. Das ist ja nie so geblieben, dass ich gesagt habe, jaja, lass die jetzt mal alle labern, sondern habe dann immer gesagt, ich weiß nicht, was ihr jetzt hier für ein Problem damit habt. Meine Kollegen haben aus der Mitte des Gremiums das so gewollt und so ist das jetzt auch. Und was ihr davon haltet, interessiert mich eigentlich einen feuchten Kehricht, sondern eigentlich sind wir doch dafür da, gemeinsam einen guten Job im Interesse der Kolleginnen und Kollegen zu machen. Ich glaube, damit haben insbesondere auch viele Kolleginnen zu schaffen oder sind damit konfrontiert, gerade wenn man in einer männerdominierten Welt ist, was Betriebsräte leider sind, dass immer noch zu wenig Kolleginnen sich engagieren. Aber ich immer wieder sage, auch das sollten wir mal aufbohren und nicht nur den Männern dieses Feld überlassen.

00:12:24: *Musik*

00:12:27: Maria Popov: Den Männern nicht das Feld überlassen, das war auch das Anliegen von Hilde Radusch. Vielleicht habt ihr von ihr schon mal gehört, Hilde Radusch war Feministin, Widerstandskämpferin gegen die NS-Diktatur und Politikerin für die Akzeptanz lesbischer Frauen. Und als Betriebsratsvorsitzende war sie eine der Pionierinnen für ein mitbestimmte, für ein gleichberechtigtes Arbeiten und Leben von Frauen. Sie ist also einer der ersten bekannten Betriebsrätinnen. Und Hilde Radusch hat sogar beruflich einiges gemeinsam mit Isabell Senf. Da sie abgesehen von einigen kurzen Tätigkeiten als Kindermädchen keine dauerhafte Anstellung fand, nahm sie 1923 in Berlin eine Arbeit als Telefonistin bei der Post an. Dort waren viele junge ausschließlich ledige Frauen beschäftigt.

00:13:14: *Musik*

00:13:21: Und auch Hilde war, so wie Isabell, dafür bekannt, sich nichts gefallen zu lassen und im Zweifel die Stimme zu erheben. Deshalb wurde sie von ihren Kolleginnen 1927 in den Betriebsrat in Berlin Mitte gewählt. Später stieg sie auf in den Betriebsbeirat für ganz Berlin und dann in den Zentralbetriebsrat für das Gebiet der Deutschen Reichspost.

00:13:42: Uwe Fuhrmann: Sie hat zum Beispiel berichtet, dass sie oft im Arbeitsgericht war, ist freigestellt worden dann, um Arbeitsgerichtsprozesse zu führen für ihre Kollegen und Kolleginnen.

00:13:52: Maria Popov: Das ist Uwe Fuhrmann. Er ist Historiker und hat unter anderem geforscht zu Feminismus in der frühen Gewerkschaftsbewegung. Im Auftrag des Hugo-Sinsheimer-Instituts der Hans-Böckler-Stiftung hat er die Studie „Frauen in der Geschichte der Mitbestimmung“ erstellt. Den Link zu dieser Studie findet ihr in den Shownotes. Im Podcast „ystemrelevant“ hat Uwe Fuhrmann von seiner Forschungsarbeit ausführlich erzählt, unter anderem eben über den Lebenslauf von Hilde Radusch. Wir hören noch mal einen Auszug, in dem er beschreibt, wie die Betriebsratsarbeit von Radusch so aussah.

00:14:25: Uwe Fuhrmann: Ein Beispiel ist zum Beispiel, dass sie festgestellt hat, dass ihre Kolleginnen während ihrer Periode Regelschmerzen hatten und aufgrund der Arbeitsverhältnisse das immer schlimmer wurde, weil die so blöd sitzen mussten und sich nicht bewegen durften. Bei der Post, die mussten da diese berühmten Bilder, wo man die Stecker immer hin und her steckt, je nachdem wer wen anruft, und dann hat sie ganz konkret einen Raum eingerichtet, wo man sich mal eine halbe Stunde mit Heizdecken ausruhen konnte. Und das hat sie durchgesetzt in ihrem Amt. Und das war dann so erfolgreich als Maßnahme, dass das auch in anderen Ämtern übernommen worden ist. Oder sie berichtet, wie die sogenannte Reinemachefrauen dann auf einmal gemerkt haben, dass sie größere Räume zugeteilt bekommen haben ohne Lohnerhöhung. Dann hat sie das ausgemessen und hat die Quadratmeterzahlen berechnet und mit den Kolleginnen durchgegangen, was im Vertrag steht und das ausgerechnet und im Zweifelsfall dann zum Arbeitsgericht gegangen.

00:15:20: Maria Popov: Das ist spannend, oder? In den Aufzeichnungen von Hilde Radusch findet Fuhrmann einen bedeutsamen Moment der Selbstermächtigung und Solidarität von Frauen. Was ist im Betrieb von Hilde Radusch passiert?

00:15:31: ?Frau?: Eine junge Kollegin erschien im April 1925 mit einem Pagenschnitt auf dem Berliner Postamt und wurde prompt zum Chef zitiert, ermahnt und mit Entlassung bedroht. Die Kollegin zog daraufhin die Aufmerksamkeit ihrer Kolleginnen auf sich. In Windeseile verbreitete sich die Kenntnis über diesen Vorfall. Schon am nächsten Tag erschienen zehn Frauen mit Bubikopf auf Arbeit und am übernächsten das halbe Amt.

00:15:58: Maria Popov: Darunter auch Hilde Radusch selbst mit Bubikopf. Das Thema hatte sich fortan erledigt. Dies war eine unkonventionelle Art, sich als arbeitende Frau Selbstbestimmung in der Arbeitswelt zu erkämpfen. Die Szene macht zudem deutlich, Hilde Radusch war in ihrem Engagement nicht allein. Fuhrmann kommt in seiner Studie auch zu dem Schluss, es gab in der Vergangenheit sehr viele Frauen, die sich für Mitbestimmung am Arbeitsplatz stark gemacht haben.

00:16:24: Uwe Fuhrmann: Die Möglichkeiten, die sie dort hatte, das war ganz klar eine Errungenschaft der Weimarer Republik. Wenn man so durchzählt, die wenigen Statistiken, die wir haben, seit Mitte der 1920er Jahre, kann man sagen, dass das tausendfach passiert ist. Also viele tausend Frauen waren Betriebsrätinnen, auch wenn das heute einem eigentlich unglaublich vorkommt, wenn man davon ausgeht, was für ein Geschichtsbild man hat.

00:16:45: *Musik*

00:16:50: Maria Popov: Ja, das Geschichtsbild männlich dominiert. Woran liegt es, dass es so viele Frauen gab, die in Gewerkschaften, Betriebsräten und Politik um Mitbestimmung gerungen haben, wir aber so wenig über sie wissen? Das haben wir den Historiker Michael Schneider gefragt. Ihr kennt ihn schon aus den Folgen 2 und 3.

00:17:07: Michael Schneider: Also ich glaube, das hat zweit Seiten. Das eine ist die Perspektive der Historiker und Historikerinnen. Nehmen wir zunächst die Historiker. Ich glaube, wir haben eine verengte Perspektive auf die alleroberste Etage der Gewerkschaften gehabt, in der sich vor allen Dingen Männer befunden haben. Erst im Zuge der, ich würde denken, 70er und 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts, als zunehmend sich auch Frauen, Historikerinnen, mit der Geschichte der Arbeiterbewegung befasst haben, haben sie gemerkt, dass eine Etage tiefer durchaus aktive Frauen, einflussreiche Frauen gewesen sind, die die Beachtung auch verdienen. Das hat sich inzwischen weitestgehend durchgesetzt. Die zweite Sache ist allerdings, dass auch die Frauen von ihrer Tätigkeit, also diejenigen, die in Gewerkschaften aktiv gewesen sind, wenig Aufhebens gemacht haben. Mit anderen Worten, die sind nicht prunkend damit herumgegangen, was sie erreicht haben, was sie bewirken wollten, wo sie Erfolge hatten und wo sie vielleicht auch gescheitert sind, sondern sie sind vergleichsweise still und bescheiden mit ihrer eigenen Vergangenheit umgegangen. Das war bei vielen Männern ganz anders. Nun muss man sagen, generell für Führungspersönlichkeiten der Arbeiterbewegung gilt, dass die wenigsten von ihnen Memoiren, eine Autobiografie oder so was geschrieben haben. Also solche Selbstzeugnisse sind in der Arbeiterbewegung, in der Geschichte der Arbeiterbewegung eher selten. Aber wenn jemand was aufgeschrieben hat, dann darf man sicher sein, dass es ein Mann gewesen ist.

00:18:44: *Musik*

00:18:47: Maria Popov: Die Perspektive hat sich in den letzten 20-30 Jahren deutlich erweitert, etwa durch Forschungen wie die von Uwe Fuhrmann. Wurde auch mal Zeit. Und deshalb wissen wir heute deutlich mehr über aktive Frauen in Gewerkschaften und Politik. Eine, deren Namen man unbedingt erwähnen muss und auch kennen sollte, ist Paula Tiede.

00:19:05: Michael Schneider: Die als erste Frau eine geschlechtsgemischte Gewerkschaft nicht nur gegründet, mitgegründet hat, sondern die auch deren Vorsitzende geworden ist. Da handelt es sich um den Verband der Buch- und Steindruckhilfsarbeiter und -hilfsarbeiterinnen Deutschlands. Der ist 1908 gegründet worden und die Paula Tiede ist die Vorsitzende dieses Verbandes geworden. Paula Tiede hat diese Position bis an ihr Lebensende innegehabt. Sie war also eine der zentralen Vorkämpferinnen der Frauen in den Gewerkschaften, und zwar in einer führenden Position.

00:19:45: *Musik*

00:19:48: Maria Popov: Um zu verstehen, wie herausragend das eigentlich war und historisch bedeutsam, gehen wir mit Michael Schneider noch mal ein ganzes Stück zurück in der Geschichte, in die Kaiserzeit.

00:20:00: Michael Schneider: Die Gewerkschaften sind ja ganz überwiegend zunächst mal von Männern gegründet worden, was der Situation am Ende des 19. Jahrhunderts ja durchaus auch entsprach. Es gab, wenn wir auf das 19. Jahrhundert zurückschauen, ja große Vorbehalte gegen die Erwerbstätigkeit von Frauen. Einerseits war es das Bild der naturgegebenen Rolle der Frau als Mutter und Familienfrau. Dann aber auch ausgedehnt auf das Bild, Frauen haben im öffentlichen Leben keine Rolle, keine Bedeutung, aber eben auch für viele Frauen war Erwerbstätigkeit auch noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allen Dingen der Notsituation geschuldet. Mit anderen Worten, sie mussten was dazu verdienen, hatten aber in vielen vielen Fällen keine besondere Ausbildung dazu.

00:20:47: Maria Popov: Die Frauen standen den Gewerkschaften also zunächst etwas fern. Männer in den Gewerkschaften standen der Frauenerwerbstätigkeit allerdings auch mehr als skeptisch gegenüber.

00:20:58: Michael Schneider: Erst mit der Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit, also mit der Zahl von Frauen, die beruflich tätig waren, haben Gewerkschaften dieses Feld wirklich erkannt und das ist eigentlich erst in den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts der Fall gewesen, und zwar unter zweierlei Aspekt Agitation verstärken, um Frauen für Gewerkschaften zu gewinnen und zweitens die sogenannte Schmutzkonkurrenz von Frauen zu verhindern, die ja niedrigere Löhne erhalten haben und damit so nach Ansicht der männlichen Arbeitnehmer das Lohnniveau drücken würden.

00:21:32: Maria Popov: Schmutzkonkurrenz, das klingt total abfällig, was hat es damit auf sich?

00:21:36: Michael Schneider: Arbeitgeber haben Frauen eingestellt, die ja „nur dazu verdienten“, also nicht eine Familie ernähren mussten, und dementsprechend haben sie in den Vortarifzeiten individuelle Arbeitsverträge gemacht. Und wenn eine Frau über das Einkommen eines Mannes „mitverfügen“ konnte, hat man ihr einen geringen Lohn angeboten. Sie haben also als, wenn man so will, Lohndrücker fungiert und dementsprechend haben die männlichen Arbeitnehmer ein Interesse daran entwickelt, dass Frauen höhere Löhne bekommen, damit diese Lohndrückerei unterbleibt. Wie gesagt, bezeichnet wurde es als Schmutzkonkurrenz, obwohl man sagen muss, es hatte mit Schmutz überhaupt nichts zu tun, sondern es war eine Befürchtung, dass man als männlicher Arbeitnehmer unter Lohndruck gerät.

00:22:26: Maria Popov: Okay, und das war dann der Anlass, warum die Männer in den Gewerkschaften begannen, sich für Frauen als Gruppe wirklich zu interessieren und diese versuchsweise zu organisieren.

00:22:36: Michael Schneider: Das war allerdings nun besonders schwer, weil Frauen die Mitgliedschaft in Gewerkschaften bis 1908, weil diese zu politischen Vereinen erklärt werden konnten, noch verwehrt war. Das heißt, Frauen durften bis 1908 nicht Mitglied in einer politischen Partei werden. Das Vereinsrecht wurde dann allerdings geändert. Ab 1908, ein ganz wichtiges Datum, warum politische Tätigkeit, parteipolitische Tätigkeit auch für Frauen möglich.

00:23:03: Maria Popov: Und damit wurden Gewerkschaften schließlich ganz zentraler Akteur für die Interessenvertretung von Arbeiterinnen, nicht nur im wirtschaftlichen und sozialen, sondern auch im politischen Bereich.

00:23:14: *Musik*

00:23:16: Was ich beeindruckend finde, ist, dass wir ja unter anderem aus der Folge 3, in der es um die Arbeitszeit ging, bereits wissen, dass Frauen einer enormen Doppelbelastung ausgesetzt waren. Also auf der einen Seite, um sich um die Familie zu kümmern und auf der anderen Seite arbeiten zu gehen.

00:23:31: Michael Schneider: Die Arbeitszeiten damals waren indessen ja bis 1918 nach heutigen Begriffen extrem lang. Also bis um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert waren ja zehn Stunden die Regelarbeitszeit, daher der Kampf der Gewerkschaften für einen 8-Stunden-Tag. Aber zehn Stunden am Tag, an sechs Tagen in der Woche, kommt man auf 60 Stunden. Die Doppelbelastung, wenn man dann noch den Weg von und zur Arbeit hinzunimmt, war natürlich extrem hoch. Und diejenigen, die sich dann eben nach dem Feierabend oder am Feierabend auch noch um die Familie kümmern mussten, hatten nun in der Tat keine Zeit dazu, jetzt auch noch politisch oder gewerkschaftlich aktiv zu werden. Die Schwelle war also extrem hoch, sich dafür dann auch noch zu engagieren. Denn kaum kam man eben aus der Fabrik oder aus dem Büro nach Hause, musste man ja die Familienarbeit, die selbstverständlich auf den Frauen ruhte, auch nach Ansicht der Männer, auch deren Ehemänner, die selbstverständlich von den Frauen übernommen werden musste, und dementsprechend blieb kaum Zeit für politische Aktivitäten.

00:24:40: Maria Popov: Das musste Frau also erst mal hinbekommen, in ihrem Alltag zwischen Erwerbstätigkeit und Familie.

00:24:45: Michael Schneider: In den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts fängt es an, dass sich Frauen auch öffentlich in Gewerkschaften engagieren. Einerseits hat die Generalkommission der freien Gewerkschaften, das war der Dachverband, der sozialdemokratisch organisierten oder orientierten Gewerkschaften, ein Frauensekretariat eingerichtet, zunächst von Ida Altmann geführt, dann von Gertrud Hanne, die die Agitation unter Frauen verstärken sollten, auf dass mehr Frauen sich in Gewerkschaften engagieren und auf die Art und Weise ihre eigenen Interessen selbsttätig und verantwortliche mit vertreten können. Und auf der anderen Seite gab es in der Tat die Bemühungen, Tarifverträge so abzuschließen, dass diese Lohndrückerei unterbleibt. Und dies war vor allen Dingen ein Interesse der männlichen Gewerkschafter. Beide Interessen liefen darin zusammen, dass man gesagt hat, Frauen werden als eine Arbeitnehmergruppe von uns in den Fokus unserer gewerkschaftlichen Politik gerückt. Allerdings muss man sagen, Gertrud Hanne hat in der Folgezeit bis 1914, ich glaube, viermal dafür kandidiert, in den Vorstand der Generalkommission aufgenommen zu werden, jeweils erfolglos.

00:26:00: Maria Popov: Es gibt natürlich auch Beispiele in der Geschichte, in denen Frauen von Männern in ihrem Kampf um Gleichberechtigung unterstützt wurden. Die Norm war aber eher, dass Frauen auch innerhalb der männlich dominierten Gewerkschaften und Betriebsräte darum kämpfen mussten, gehört zu werden. Und das taten sie. Nicht nur im Blick auf ihren Arbeitsplatz, ihren Lohn und die Arbeitszeit, sie wollten mehr. Auch Mitbestimmung in der Wirtschaft und Politik.

00:26:28: Michael Schneider: Es gab ab den 90er Jahren eine zunehmende Stimmrechtsbewegung, also eine Bewegung, die sich dafür einsetzte, den Frauen das Stimmrecht endlich zu verschaffen. In der Verfassung von 187 in der Reichsverfassung des deutschen Kaiserreichs war eben nur ein Männerwahlrecht vorgesehen, Frauen waren da nicht erwähnt, die durften nicht wählen. Und dagegen gab es in England ab der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in Deutschland dann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nach und nach zunehmende Proteste. Mit anderen Worten, die Frage des Frauenstimmrechts war die eigentliche Mobilisierungskraft für eine Frauenbewegung. Es gab nur eine politische Partei, nämlich die SPD, die die Frage des Frauenstimmrechts in ihr Programm aufgenommen hat 1891, in das Erfurter Programm, in dem die Frage des Frauenstimmrechts für Reichstagswahlen angesprochen und als Forderung formuliert worden ist. Alle anderen politischen Parteien haben dieser Frage keine besondere Priorität beigemessen. Wenn man nicht sogar sagen kann, eigentlich haben sie es abgelehnt. Dementsprechend ist eine solche Initiative nicht bis ins Parlament vorgedrungen, aber die Stimmrechtsbewegung der bürgerlichen Frauen hat sich in mehreren Verbänden organisiert, haben einen Dachverband gebildet 1895 und haben damit gehörigen Druck machen können. Und dann bedurfte es der Sonderbedingungen des Ersten Weltkriegs, dass am Ende dieses Krieges in der Tat dann das Frauenwahlrecht verankert worden ist, zunächst in einer Verordnung, dann zu den Wahlen zur Nationalversammlung zum ersten Mal auch wirklich realisiert und schließlich in der Weimarer Reichsverfassung auch verankert worden ist.

00:28:17: Maria Popov: Bis 1918 spielten die Frauen im deutschen Politikbetrieb keine Rolle. Erst mit der Verordnung über die Wahlen zur verfassungsgebenden deutschen Nationalversammlung vom 30. November 1918, wurde das aktive und passive Wahlrecht für alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen eingeführt. Somit konnten Frauen bei der Wahl zur deutschen Nationalversammlung am 19. Januar 1919 erstmals auf nationaler Ebene ihr neues Recht nutzen. Sie strömten enthusiastisch an die Wahlurnen.

00:28:52: *Musik*

00:28:54: Über 82 Prozent der wahlberechtigten Frauen gaben ihre Stimme ab. Und damit sind wir wieder beim Beginn dieser Folge und Marie Juchacz gelandet, erinnert ihr euch? 37 weibliche Abgeordnete, darunter Marie Juchacz und ihre jüngere Schwester Elisabeth Röhl zogen ins Parlament ein.

00:29:12: Michael Schneider: In der Folgezeit, was die Themen anlangt, sind die Frauen in allen Fraktionen auf die klassischen Frauenthemen abgedrängt worden. Das heißt, Frauen waren für Sozialpolitik zuständig, Frauen waren für Familienpolitik zuständig, aber eben nicht für die Wirtschaftspolitik, nicht für die Außenpolitik, das war also ihr ganz spezielles Kenntnisgebiet, aber auf der anderen Seite wurde ihnen auch nicht die Möglichkeit gegeben, über diese Gebiete hinaus Kompetenz zu erwerben und Kompetenz zu zeigen. Das blieb bis 1933 im Grunde genommen gleich. Das, was man allerdings im Kopf haben muss, ist, dass all das, was 1918/19 errungen worden ist, offensichtlich rückholbar war. Mit anderen Worten, 1933 sind die Frauenrechte, was die politische Präsenz anlangt, deutlich zurückgeschnitten worden. Hat sich das Frauenbild wieder zurückentwickelt hin zur Mutter, später dann im Krieg zur Kameradin des Mannes, aber zu eben einer nachgeordneten Rolle. Also mit anderen Worten, das, was man aus dieser Entwicklung lernen kann, ist, dass Fortschritt nicht immer geradlinig verläuft.

00:30:24: *Musik*

00:30:30: Maria Popov: Der eigentliche Gleichberechtigungsartikel findet sich dann erst im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland von 1949, in dem es heißt, Mann und Frau sind gleichberechtigt. In der ebenfalls 1949 verabschiedeten Verfassung der DDR lautet der entsprechende Artikel, Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Seitdem ist wieder ein gutes Stück Zeit vergangen, wo stehen wir also heute, wenn es ums gleichberechtigte Arbeiten und die Mitbestimmung durch Frauen am Arbeitsplatz geht?

00:30:59: Beate Bockelt: Also wir haben viele gute junge Frauen in den letzten Jahren, finde ich, also gerade in der chemischen Industrie, in die ich halt auch ein bisschen Einblick habe, auch in Führungsverantwortung bekommen, sowohl auf Arbeitgeberseite als auch in den Betriebsratsgremien.

00:31:13: Maria Popov: Beate Bockelt steht kurz vor der Rente und ist gelernte Chemielaborantin bei der Höchst AG Frankfurt am Main. Von 1984 bis 2010 hat sie Arzneimittelzubereitungen und klinische Prüfpräparate entwickelt.

00:31:28: Beate Bockelt: Das war schon immer ein frauendominierter Beruf, deswegen hatte ich da auch nie Probleme mit männlichen Kollegen, weil es selbstverständlich war, dass in den Laboren auch immer Frauen gearbeitet haben und auch ernst genommen wurden, weil sie halt einen naturwissenschaftlichen Hintergrund hatten. Und anfangs, also in meiner Abteilung waren hauptsächlich Pharmazeuten als Vorgesetzte, gab es da nur Männer. Und so seit Mitte der 90er sind ganz viele Frauen dazugekommen. Und die gehen auch durch in der Führung, also bis ganz nach oben.

00:31:58: Maria Popov: Beate Bockelt ist es schon früh ein Anliegen, sich auch mitbestimmend in ihren Betrieb einzubringen.

00:32:03: Beate Bockelt: Ich habe mich ganz klassisch so in der Gewerkschaftsarbeit organisiert. War dann Vertrauensfrau in meiner Abteilung etliche Jahre und habe auch schon zu Zeiten der Höchst AG als Nachrücker kandidiert im Betriebsrat.

00:32:15: Maria Popov: 2001 ist es soweit, sie wird Mitglied des Betriebsrats und ist dafür ab 2010 auch freigestellt. 2012 wird sie dann sogar Vorsitzende des Gesamtbetriebsrats der Sanofi Aventis Deutschland GmbH. Heute steht Beate Bockelt kurz vor der Rente und hatte den Betriebsratsvorsitz eigentlich schon an die folgende Generation, an eine junge Kollegin, abgegeben. Ist nun übergangsweise aber dann doch stellvertretend wieder im Amt. Denn ihre Nachfolgerin hat ein Kind bekommen und fällt dadurch aktuell aus.

00:32:48: Beate Bockelt: Wir haben sehr viele junge Frauen im Betriebsrat und da sind jetzt gerade alle in der Familienplanungsphase oder kommen gerade wieder und das macht es im Moment ein bisschen kompliziert und so bin ich stellvertretende Vorsitzende geworden, quasi in die Lücke gesprungen, um die Geschäfte aufrechterhalten zu helfen.

00:33:06: Maria Popov: Aushelfen, das macht Beate Bockelt natürlich gerne.

00:33:09: Beate Bockelt: Aber was mich so bisschen nachdenklich macht, ich habe so das Gefühl, dass wirklich ein großer Backlash gerade da ist, weil das Thema Familie das hängt nach wie vor wieder an den Frauen. Und selbstverständlich ist, dass die Männer Vollzeit arbeiten und die Frauen doch wieder in die Teilzeitrolle schlüpfen. Die sind gut ausgebildet, haben teilweise berufsbegleitend studiert, sind auch in der Gewerkschaft sehr engagiert und sobald aber die Kinder dazukommen, fallen viele wieder zurück in die alte Rolle. Und das macht mich ein bisschen traurig, weil ich eigentlich gehofft hatte, dass wir da weitergekommen wären in den letzten 20-30 Jahren. Für den beruflichen Werdegang der Frau und bei der vielen Teilzeit denke ich halt auch in erster Linie dran, wie das mit der Altersversorgung dann mal aussieht.

00:33:53: Maria Popov: Die Kinderbetreuung sei das Problem, sagt sie.

00:33:56: Beate Bockelt: Also ich erlebe es hauptsächlich, dass die Kolleginnen zwar Betreuungsplätze finden für ihre Kinder, das aber aufgrund der angespannten Personalsituation in den Kitas dann oft der Anruf kommt und dann heißt es, oh Gott ich muss jetzt schnell nach Hause das Kind abholen, in der Kita ist wieder irgendwas passiert. Und dann ist es selbstverständlich nach wie vor, dass die Mama zu Hause bleibt und nicht der Papa. Und wenn wir schaffen würden, ausreichend zuverlässige Betreuung sicherzustellen, dass dann vielleicht auch mehr von den jungen Kolleginnen sich trauen würden, in Vollzeit zu arbeiten.

00:34:27: Maria Popov: Es muss also vor allem auf politischer Ebene etwas passieren, wenn man Beate Bockelt fragt.

00:34:32: Beate Bockelt: Vielleicht könnte man da auch über Tarifverträge das eine oder andere besser machen, aber das nützt ja alles nichts, wenn auf der einen Seite eben zu wenig Erzieher da sind und auf der anderen Seite muss sich eben auch bei den Vätern was ändern. Also manchmal werde ich auch zornig und sag dann immer, verflucht noch mal, haben diese Kinder alle keine Väter, das kann doch nicht sein.

00:34:50: Maria Popov: Auch Isabell Senf kennt diese Problematik nur zu gut.

00:34:54: Isabell Senf: Vor vier Jahren standen wir in der Pandemie, Lockdown, auch Kindertagesstätten waren geschlossen und das war natürlich insbesondere für die Kolleginnen eine riesige Herausforderung, was die Kinderbetreuung angeht. Und wir haben natürlich als Betriebsrat auch darum heftig diskutiert, was kann man denn jetzt eigentlich irgendwie auch betrieblich regeln, was Verlagerung von Arbeitszeiten angeht. Und dann habe ich auch immer sehr stark gemacht, naja ich finde, das Thema darf man aber nicht nur betrachten, wir müssen uns um die Mütter kümmern, sondern um Erziehungsberechtigte und da gehören auch die Väter dazu. Und da gab es so ein paar Momente, wo viele, ach ja stimmt, mm /bejahend/, okay. Ich sage, ja wir müssen da wirklich gucken, dass nicht nur Mütter gesehen werden, sondern auch Väter gesehen werden. Und das ist ein Beispiel dafür, dass oft noch dieses traditionelle Bild ist, die Frau kümmert sich um Essen, Kinder Verpflegung und sonst irgendwas.

00:35:57: Maria Popov: Erinnert irgendwie schon sehr an das, was wir von Michael Schneider über die Zeit des Kaiserreichs und das 20. Jahrhundert gehört haben oder? Im Zweifelsfalle ist es weiterhin die Frau, die sich neben dem Job hauptsächlich um die Familie kümmert. Heute sprechen wir da von Carearbeit. Und die deshalb im Zweifelsfalle auch weniger Kapazitäten hat, um sich gewerkschaftlich zu engagieren und politisch einzubringen. Auch heute muss Frau sich irgendwie immer noch entscheiden zwischen Job, Familie und politischem Engagement und wo jede für sich ihre eigenen Prioritäten setzt.

00:36:28: Isabell Senf: Es gibt ja immer einmal die Auswertungen nach den Betriebsratswahlen und da kann man ja schon mal feststellen, dass das Thema Alter und männlichdominiert gleichbleibend ist in allen Branchen und das ist, glaube, etwas, was nicht gut ist, sondern wo wir gemeinsam drum ringen müssen, dass es da eine Veränderung gibt. Und ich sage immer, wenn jetzt auch Männer uns zuhören, wir wollen ja sozusagen die Männer hier nicht wegbeißen oder wir wollen irgendwie nicht sagen, hier ihr dürft nicht mehr, sondern ich finde, es braucht ein Bewusstsein dafür, dass Kolleginnen auch ermutigt werden dazu, sich zu engagieren und dass sie dabei Unterstützung erhalten von ihrer Gewerkschaft, aber auch von männlichen Kollegen.

00:37:16: *Musik*

00:37:21: Maria Popov: Das war „Geschichte wird gemacht“. Die nächste Folge erscheint in sechs Wochen. Abonniert den Podcast, um sie nicht zu verpassen. Wenn euch die Folge gefallen hat, lasst uns gerne eine Bewertung da und empfehlt uns weiter. „Geschichte wird gemacht“ ist eine Produktion von hauseins im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung. Ich bin eure Host Maria Popov. Redaktion: Stefanie für hauseins und Dieter P für die Hans-Böckler-Stiftung. Produktionsleitung: Melanie Geigenberger. Schnitt und Sounddesign: Joscha Grunewald. Tschüss und bis zum nächsten Mal.

Kommentare (1)

Wolfgang Jäger

Wieder ein schöner Podcast. Glückwunsch. Sie sind allerdings recht lang. Da braucht man Kondition. Wie wäre es, wenn die Interviewpartner mit Bild oder als Aufzeichnung erscheinen würden? Der Aufwand wird aber sicher nicht gering sein.

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