Ein Leben für die Demokratie – Warum wir Wilhelm Leuschners Kampf gegen die Nazis nicht vergessen dürfen

Shownotes

„Geschichte wird gemacht” ist eine Produktion von Hauseins im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung.

Host: Maria Popov

Redaktion: Katharina Alexander für Hauseins und Dieter Pougin für die Hans Böckler Stiftung

Produktionsleitung: Melanie Geigenberger

Schnitt und Sounddesign: Joscha Grunewald

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00:00:00: *Intro*

00:00:03: Maria Popov: Hey, ich bin Maria Popov und ihr hört „Geschichte wird gemacht“.

00:00:07: *Musik*

00:00:22: Wir starten diese Folge an einem Tag im Sommer, an einem See im Nordwesten von Berlin. Ihr hört gleich die Aufnahme, auf der ich mal versucht habe, euch zu beschreiben, wie sich dieser Ort für mich anfühlt. Ich rieche so ein bisschen See, bisschen meine eigene Sonnencreme, ich höre so glückliches Kreischen von Kindern, die im See planschen, hier gibt es einen kleinen Bootsverleih nebenan. Ich liebe diesen Ort und verbinde den mit so ganz tollen Glücksgefühlen mit Pommes und Eis am Strand. Für mich ist der Plötzensee ein total erholsamer, schöner Ort, den ich mit so einer Idylle und Glücksgefühlen verbinde, auch weil er mein Freibad der Wahl ist, nämlich das Strandbad Plötzensee, ist so der Ort, den ich auswähle, wenn ich das erste Mal meine Füße in kaltes Wasser dippen will. Was viele der Menschen, die hier baden, wahrscheinlich nicht wissen und ich selber übrigens bis vor kurzem auch nicht, ist, dass es nur wenige Minuten von hier entfernt einen Ort gibt, der auch Plötzensee heißt, an dem die Stimmung aber eine ganz andere ist.

00:01:28: *Musik*

00:01:31: Dort liegt das Gelände des ehemaligen Strafgefängnisses Plötzensee. Hier wurden während der Herrschaft der Nationalsozialisten fast 3.000 Menschen hingerichtet, vor allem politisch Andersdenkende und WiderstandskämpferInnen. Einer der Menschen, die hier umgebracht wurden, war Wilhelm Leuschner. Wilhelm Leuschner war ein sozialdemokratischer Politiker, Gewerkschafter und einer der bekanntesten Widerstandskämpfer gegen die Nazis. Die Wahrscheinlichkeit ist gar nicht so gering, dass es bei euch in der Nähe eine Wilhelm-Leuschner-Schule, -Straße oder einen Platz gibt, der nach ihm benannt ist. In Hessen wird jedes Jahr die Wilhelm-Leuschner-Medaille an Menschen verliehen, die sich für die Demokratie und soziale Gerechtigkeit einsetzen. Aber wer war dieser Mann, der gegen Hitler und die Nazis angekämpft hat? Erst in seinen politischen Ämtern und später dann im Untergrund. Warum ist gerade er eine Person, an die sich bis heute viele Menschen erinnern, zumindest innerhalb der Gewerkschaften? Weil, auch das gehört zu seiner Geschichte, dass selbst Leuschner trotz aller Straßen und Plätzen, die seinen Namen tragen, immer mehr in Vergessenheit gerät und viele Menschen noch nie von ihm gehört haben. Und so ging es mir ehrlicherweise auch vor der Arbeit an dieser Folge.

00:02:41: *Musik*

00:02:46: Um zu verstehen, wer Wilhelm Leuschner war, fangen wir von hinten an. In Plötzensee, an dem Ort, an dem er ermordet wurde. Darum war ich zusammen mit Katharina, der Autorin dieser Folge, dort. Viele Gebäude des damaligen Gefängnisses wurden inzwischen abgerissen. Heute sind dort eine Jugendstrafanstalt und ein Männergefängnis. Ein kleiner Teil von früher ist aber noch erhalten, der Schuppen, in dem die Hinrichtungen stattgefunden haben. Der ist heute Teil der Gedenkstätte Plötzensee. Schon der Weg zur Gedenkstätte hat etwas Bedrückendes an sich. Man läuft ein ganz schön langes Stück an der Rückseite der JVA entlang an einer hohen Gefängnismauer mit Stacheldraht. Die Mauer, die öffnet sich dann auf einmal und man kommt über einen kleinen Vorplatz auf das Gelände der Gedenkstätte. Wir sind jetzt hier, Katharina, die Autorin, und ich angekommen an der Gedenkstätte Plötzensee. Das ist ein ganz kahler, trister Ort. Heute ist so ein sommerlicher Tag, die Sonne scheint, es sind ein paar Bäume um uns herum, aber dieser Ort ist eigentlich ganz ruhig und bisschen kahl. Ist jetzt kein Ort, der so zum Verweilen einlädt oder so, keine Bank, ein bisschen Wiese, aber eher Stein und grau. Und eine Gedenkstätte oder die Rückseite der Gedenkstätte, auf der steht „Den Opfern der Hitler-Diktatur der Jahre 1933 bis 1945“. Bevor ich diesen Ort genauer erkunde, schauen wir uns aber erstmal an, wie es dazu kam, dass Wilhelm Leuschner hier gefangen gehalten und letztendlich auch ermordet wurde.

00:04:18: *Musik*

00:04:21: Es ist der 20. Juli 1944, mittags geht im Bendlerblock, einem schicken Gebäudekomplex in Berlin, eine Nachricht ein.

00:04:30: O-Ton: Es ist etwas Furchtbares passiert, der Führer lebt.

00:04:35: Maria Popov: Gesendet wurde diese Nachricht von Erich Fellgiebel. Einem General und Mitverschwörer des Stauffenberg-Attentats. Er war zusammen mit dem Offizier Claus Schenk Graf von Stauffenberg in der sogenannten Wolfsschanze. So wird das Führerhauptquartier im damaligen Ostpreußen genannt. Eigentlich war der Plan, Hitler mit einer Bombe zu töten, die Macht in Deutschland zu übernehmen und eine Demokratie aufzubauen. Auf diese Nachricht hofften auch ihre Verbündeten in Berlin vergeblich, wie wir heute wissen. Eine der Personen im Hintergrund des Attentats vom 20. Juli 1944 ist Wilhelm Leuschner. Anders als Stauffenberg und Fellgiebel ist er kein Mitglied des Militärs. Er brachte sein dichtes Netzwerk aus Kontakten vor allem zu ehemaligen Gewerkschaftsmitgliedern und SozialdemokratInnen in den Widerstand ein. Aber wer war Wilhelm Leuschner, bevor er einer der eingeweihten des Anschlags auf Hitler wurde?

00:05:38: Michael Schneider: Wer er ist, 1890 geboren worden in Bayreuth als Sohn eines Werkmeisters in einer Ofenfabrik. Seine Mutter war Hausfrau. Wenn man dieses familiäre Umfeld betrachtet, gehörte er sicherlich zu dem traditionellen Facharbeitermilieu, das ganz stark noch handwerklicher geprägt gewesen ist.

00:05:58: Maria Popov: Das ist der Historiker Michael Schneider, ihr kennt ihn schon aus den vorherigen Folgen. Aber zurück zu Leuschner. Der mach mit 14 eine Lehre zum Holzbildhauer. Falls ihr euch da nichts drunter vorstellen könnt, das ist gar kein Wunder, der Beruf ist heute auch fast ausgestorben. Holzbildhauer verzieren zum Beispiel Möbel mit Schnörkeln oder Ornamenten, so wie man das heute vielleicht noch von Kirchenbänken kennt. Leuschner stellt aber eher Alltagsmöbel in einer Fabrik her und er fängt früh an, sich politisch zu engagieren. Er tritt einer Gewerkschaft bei, dem Verband der Holzbildhauer. Und später auch einer Partei.

00:06:33: Michael Schneider: 1913 ist er eingetreten in die SPD, in der er sich engagiert hat von Anfang an. Dann kam der erste Weltkrieg, von 1916 bis 1918 war er Soldat.

00:06:43: Maria Popov: Leuschner ist gegen Krieg. In seinem Tagebuch schreibt er:

00:06:46: O-Ton: Jeder, der kein Geld mit ihm verdient oder sich sonst etwas erhofft, hat den Krieg satt. Trotz aller schönen Reden unserer Regierungsvertreter.

00:06:53: Maria Popov: Schon damals wird klar, dass Leuschner jemand ist, der Menschen begeistern kann und sich für andere einsetzt. Im November 1918 wird er in den Soldatenrat gewählt, so hießen die Gruppen, die nach der November-Revolution die politische Ordnung organisierten, bis sich eine neue Regierung gebildet hatte. Wenn ihr mehr über diese Zeit wissen wollt, hört doch mal in unsere Folge zum Acht-Stunden-Tag rein, der hat seinen Ursprung nämlich auch im November 1918. In der Weimarer Republik engagiert Leuschner sich dann weiter. Er wird Vorsitzender der Arbeiterjugend Hessens und steigt in der SPD immer weiter auf, bis er mit Mitte 30 in den hessischen Landtag gewählt wird. Vier Jahre später geht es dann noch einen Step weiter nach oben, er wird hessischer Innenminister.

00:07:31: Michael Schneider: Dieser Weg zum Innenministerium war gar nicht so ganz einfach. Das Wahlergebnis von der Landtagswahl 1927 war nicht eindeutig genug, also die alte Regierung, Zentrum-SPD, hatte nur eine ganz knappe Mehrheit. Und dementsprechend hatte man zunächst überlegt, ob nicht SPD und DDP und andere eine neue Regierung bilden könnten, zumal das Verhältnis zur Zentrumspartei gar nicht so unkompliziert in der vorhergehenden Zeit gewesen ist.

00:07:56: Maria Popov: DDP, das steht für die Deutsche Demokratische Partei, die war eher linksliberal eingestellt. Die Zentrumspartei setzte sich damals vor allem für die Ziele der KatholikInnen ein. Zusammen mit der SPD hatten die drei Parteien in den letzten Jahren in Hessen regiert und sich dabei immer wieder in die Haare bekommen.

00:08:12: Michael Schneider: Einer der Streitpunkte war das sogenannte „Zigeuner-Gesetz“, das Ferdinand Kirnberger, Zentrumspolitiker, Innenminister, eingebracht hatte und bei dem die SPD bemängelte, dass dies eine rassistische Zuschreibung einer bestimmten Gruppe als besonders kriminalitätsanfällig bedeuten würde.

00:08:31: *Musik*

00:08:33: Wir benutzen diesen Begriff an dieser Stelle nicht weiter, weil es schon damals eine abwertende Fremdbezeichnung war, die genutzt wurde, um Menschen auszugrenzen und rassistisch zu diskriminieren. Stattdessen sprechen wir von Sinti und Roma, das ist eine Selbstbezeichnung, die von den Menschen aus den Communities kommt. Die alte Regierung hatte es also nicht mehr geschafft, dieses Gesetz zu verabschieden. Nach der Wahl geht die Koalition zwischen der SPD, der DDP und der Zentrumspartei nach harten Verhandlungen weiter. Wilhelm Leuschner wird Innenminister und hat weiterhin das rassistische Gesetz gegen Sinti und Roma auf seinem Tisch liegen.

00:09:13: Michael Schneider: Leuschner übernahm eine Gesetzesvorlage, die er vorher mit seiner Fraktion eindeutig abgelehnt hat. Die SPD-Fraktion hatte vorher dafür gestimmt, dass keinerlei rassistische Zuschreibungen in einem solchen Ausgrenzungsgesetz getroffen werden sollten.

00:09:31: Maria Popov: Die SPD kann sich aber nur bedingt gegen die Zentrumspartei durchsetzen. Das Gesetz wird in leicht abgeschwächter Form verabschiedet. Ab da sollten alle persönlichen Daten von Sinti und Roma, die den Kreisämtern in Darmstadt vorliegen, der Polizei gemeldet werden. Dass Leuschner hier mitverantwortlich für ein rassistisches Gesetz war, ist besonders irritierend, wenn man bedenkt, dass er sich während seiner politischen Laufbahn immer wieder für demokratische Werte einsetzte. Er hat sich für die Gleichberechtigung aller StaatsbürgerInnen ausgesprochen, und zwar gleichgültig welcher Abstammung und sozialen Herkunft sie auch sein mögen. Dieses Gesetz entsprach also eigentlich überhaupt nicht seinen politischen Überzeugungen.

00:10:15: *Musik*

00:10:17: Maria Popov: Neben den Parteien, über die wir hier gerade schon gesprochen haben, gibt es noch eine weitere, die in dieser Zeit politisch sehr relevant ist, die NSDAP. In den letzten Jahren hat sie extrem an Macht diazugewonnen. 1930 wird sie zum ersten Mal Teil einer Landesregierung und bei der Reichstagswahl im selben Jahr zweitstärkste Kraft. Gleichzeitig wird die politische Situation immer instabiler. Durch die Weltwirtschaftskrise kommt es zu Massenarbeitslosigkeit, es gibt immer mehr gewalttätige Übergriffe von Nazis auf politisch Andersdenkende und Menschen jüdischen Glaubens. In diesem politischen Klima werden Leuschners Ministerium plötzlich geheime Informationen zugespielt, die Boxheimer Dokumente.

00:11:02: Michael Schneider: Diese Boxheimer Dokumente gingen für den Fall eines kommunistischen Aufstandsversuches, eines kommunistischen Putsches davon aus, was dann die NSDAP dagegen unternehmen könnte. Und welches System dann eigentlich aufzubauen sei. Also es war, wenn man so will, nicht direkt ein Masterplan zur Machtübernahme, sondern ein Plan in Reaktion auf einen kommunistischen Putsch, dann aber in der Tat sofort selbst die Macht zu übernehmen.

00:11:38: Maria Popov: Die Dokumente wurden nach der Gaststätte benannt, wo sie zum ersten Mal präsentiert wurden, der Boxheimer Hof. Dort hatte Werner Best, der hessische Leiter der Rechtsabteilung der NSDAP sie im kleinsten Kreis vorgestellt.

00:11:54: Michael Schneider: Mit diesen Boxheimer Dokumenten wurde deutlich, was es bedeuten würde, wenn die NSDAP die Macht übernähme, nämlich Einschränkung aller Grundrechte und die Aufrichtung eines Polizeistaates.

00:12:06: Maria Popov: Diese Dokumente stehen im krassen Gegensatz dazu, wie sich die NSDAP sonst präsentiert. Normalerweise pocht sie auf ihren Legalitätskurs, also darauf, dass sie die Macht auf legalem Wege durch Wahlen erreichen möchte. Leuschner wird zum Whistleblower und entscheidet sich, die Dokumente zu veröffentlichen.

00:12:23: Michael Schneider: Leuschner ist damit nicht nur zum persönlichen Hassobjekt von Werner Best geworden, einem der zentralen juristischen Drahtzieher des NS-Regimes, sondern die ganze NSDAP, die ganze NSDAP-Führung, die hessische NSDAP hat in Leuschner die personifizierte Feindschaft der Demokratie gefunden, hat ihn abgelehnt und hat ihn bedroht.

00:12:46: Maria Popov: Ein Nationalsozialist schreibt Leuschner damals:

00:12:49: O-Ton: Ich wünsche für ein baldiges Ende im Landtag, dass ich dir den Hals abschneide. Mit Moskau schießen wir dich zusammen. Die Messer sind bereit zum Schlachtfest.

00:12:55: Maria Popov: Die Veröffentlichung sorgt in den linken Parteien für viel Aufruhr. In der sozialdemokratischen Zeitung „Vorwärts“ heißt es:

00:13:01: O-Ton: Regieren heißt für diese Leute, andere erschießen zu lassen. Ihre Fantasie ist ausgefüllt mit Hinrichtungsszenen, Lust an Macht ist für sie gleichbedeutend mit Lust an Mord.

00:13:11: Maria Popov: Die Regierung unter Reichskanzler Heinrich Brüning scheint von der Veröffentlichung dagegen wenig beeindruckt. Die Pläne der Nazis würden sich schließlich gegen kommunistische Revolutionäre richten. Von Umsturzplänen könne man also nicht sprechen. Das sieht Wilhelm Leuschner anders, er versucht Hitler wegen Landesverrats vor das Reichsgericht zu bringen, aber das Verfahren wird eingestellt.

00:13:30: *Musik*

00:13:35: Die Veröffentlichung der Boxheimer Dokumente kann den Aufstieg der Nazis also nicht stoppen. Am 30. Januar 1933 wird Adolf Hitler von Reichspräsident Hindenburg zum Reichskanzler ernannt. In kürzester Zeit bauen die Nazis die Demokratie ab, schränken Presse- und Versammlungsfreiheit ein und was macht Wilhelm Leuschner?

00:13:59: Michael Schneider: Leuschner ist im Januar 1933 zum stellvertretenden ADGB-Vorsitzenden gewählt worden.

00:14:06: Maria Popov: Der ADGB, das ist der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund.

00:14:09: Michael Schneider: In dieser Funktion hat er dann zusammen mit Leipart…

00:14:14: Maria Popov: Gemeint ist Theodor Leipart, ein SPD-Politiker und Vorsitzender des ADGB.

00:14:21: Michael Schneider: Angesichts der hochkomplexen und sehr komplizierten und sehr bedrohlichen Situation im Frühjahr 1933 ja mehrere Versuche unternommen, das organisatorische Überleben der freien Gewerkschaften zu sichern, auch in dem neuen Staat, bei dem erkennbar war, dass Hitler und die NSDAP-Führung und die neue Staatsführung ein positives Verhältnis zu Gewerkschaften keineswegs angestrebt haben. Aber man hat den Versuch unternommen, diese Organisationen am Leben zu erhalten, und deswegen haben sich Leipart und Leuschner Anfang April 1933 mit Vertretern der NSBO, der nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation getroffen und haben darüber beraten, wie könnten denn Gewerkschaften aussehen, so dass sie in den neuen Staat sich einpassen würden?

00:15:20: Maria Popov: Wieso ist Leuschner, der sich seit Jahren öffentlich gegen die Nazis stark macht, jetzt plötzlich zu Gesprächen bereit? Und sogar für die Anpassung der Gewerkschaften an das neue System? Dahinter steckte der verzweifelte Versuch, die Arbeit der Gewerkschaften irgendwie weiter am Laufen zu halten und das allerschlimmste zu verhindern.

00:15:42: *Musik*

00:15:43: Genützt hat das alles nichts. Am 02. Mai 1933 zerschlagen die Nationalsozialisten die Gewerkschaften, besetzen die Gewerkschaftshäuser und verhaften ranghohe Funktionäre. Auch Wilhelm Leuschner wird verhaftet, kommt aber wenige Tage später frei. Seine Stelle im ADGB, die gibt es jetzt nicht mehr, genauso wie die freien Gewerkschaften. Stattdessen formen die Nazis die Deutsche Arbeitsfront, eine Art Pseudogewerkschaft, mit der sie die Arbeiter umwerben wollen. Der Chef dieser Deutschen Arbeitsfront heißt Robert Ley. Der Name wird gleich noch wichtig, denn im Juni 1933 gibt es zwischen ihm und Wilhelm Leuschner eine Auseinandersetzung, die internationale Aufmerksamkeit bekommt. Als stellvertretender ADGB-Vorsitzender war Leuschner nämlich eigentlich Mitglied der Internationalen Arbeitsorganisation. Die ist nach dem Ende des ersten Weltkriegs als Teil der Vereinten Nationen entstanden. Auf Englisch heißt sie International Labour Organisation, darum wird sie oft auch als ILO abgekürzt. Neben den Regierungen der Staaten sind dort auch Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen vertreten und Leuschner hat durch seine Funktion im ADGB dort ein Mandat.

00:17:03: Reiner Tosstorff: Das Mandat wurde einkassiert und wurde dann von der Regierung Hitler dann dem neuen Chef der „Deutschen Arbeiterschaft“ Robert Ley übertragen.

00:17:16: Maria Popov: Das ist Reiner Tosstorff, er ist Historiker und hat zu den Auseinandersetzungen zwischen Robert Ley und Wilhelm Leuschner ein Buch geschrieben. Robert Ley übernimmt also Leuschners Job in der ILO. Und Leuschner?

00:17:28: Reiner Tosstorff: Er wurde dann sozusagen zu einem technischen Berater Widerwillen ernannt.

00:17:33: Maria Popov: Die technischen Berater begleiten die Delegierten zu den Konferenzen und Sitzungen. Darum nehmen Wilhelm Leuschner und Robert Ley im Juni zusammen an der Jahrestagung in Genf teil. Leuschner findet das zwar alles nicht in Ordnung, macht aber auch erst mal gute Miene zum bösen Spiel. Die Jahrestagung ist einer der ersten Auftritte der Nazis auf dem internationalen Parkett. Robert Ley hat vor allem ein Ziel, er will, dass die neue Regierung Deutschlands von den anderen Ländern akzeptiert wird.

00:18:07: Reiner Tosstorff: Es ging also darum sozusagen, dass die sogenannte nationale Revolution Hitlers ja einfach nur eine weitere Entwicklung war, also alles nicht so schlimm, und natürlich er spekulierte darauf, dass die Mehrheit der Staaten, aber auch der Unternehmerdelegierten das dann so akzeptieren würden.

00:18:28: Maria Popov: Die beiden treffen also in Genf ein. Und Leuschner, Leuschner nimmt bei dieser Tagung Teil und sagt gar nichts. Das klingt jetzt erst mal nicht so dramatisch, für die Nazis ist es aber ein Schlag ins Gesicht. Während Robert Ley sich dafür ausspricht, dass die neue Arbeitsfront stärker in der ILO vertreten sein sollte, sitzt Leuschner neben ihm und sagt keinen Ton. Auch durch Leuschners Verhalten verweigert die ILO der deutschen Arbeitsfront letztendlich die Anerkennung.

00:18:57: *Musik*

00:18:58: Maria Popov: Dadurch ist Wilhelm Leuschner nun endgültig zum Hassobjekt der Nazis geworden. Obwohl ihm Freunde raten, ins Exil zu gehen, versucht er unerkannt nach Deutschland zurückzureisen, aber an der Grenze wird er erkannt.

00:19:13: Michael Schneider: Daraufhin ist er dann verhaftet worden und für ein Jahr lang in Konzentrationslagern verschwunden, ist dann aber im Juni 1934 wieder entlassen worden.

00:19:26: Maria Popov: Ab jetzt übernimmt wieder Michael Schneider.

00:19:29: Michael Schneider: Wie eine ganze Reihe von Arbeiterführern, Gewerkschaftsführern und eben auch Parteiführern, die in Haft geraten waren, hat er danach seine Widerstandstätigkeit aufgenommen.

00:19:46: Maria Popov: Anders als geplant schüchtert die Haft Leuschner also nicht ein oder zumindest nicht so sehr, dass er seinen Widerstand gegen die Nationalsozialisten aufgibt. Im Gefängnis notiert er in seinem Tagebuch:

00:20:00: O-Ton: Ich sitze für mein gutes Wollen, nur weil ich anderer Auffassung war.

00:20:04: Maria Popov: Nach seiner Haft setzt er alles daran, weiterhin Kontakt zu anderen GegnerInnen des Systems aufrechtzuerhalten.

00:20:11: Michael Schneider: Leuschner hat einen Betrieb übernommen für Bierschankreinrichtungen. Das heißt für Bierzapfanlagen. Und der Knüller bei diesen Anlagen ist, dass es da um Druckventile und Druckschläuche ging, für die diese Firma Patente hatte, die nachher für die Rüstungsindustrie äußerst wichtig wurden, vor allen Dingen für den U-Boot-Bau. Und wie das Schicksal es will, hat Leuschner auf die Art und Weise Kontakte eben zu hohen Militärs entwickelt, hat einerseits sein Netzwerk zu einzelnen Gewerkschaftern und Gewerkschafterinnen weiter am Leben erhalten und ist auf die Art und Weise eine Schaltstelle in einem Netzwerk geworden.

00:20:48: Maria Popov: So wie Leuschner machen es auch viele andere GewerkschafterInnen. Sie suchen nach Wegen, um weiterhin mit alten Vertrauten in Kontakt zu bleiben.

00:20:55: Michael Schneider: Und das war am Anfang, also noch im Jahr 1933, vor allen Dingen möglich auch für führende Gewerkschafter, weil sie die Rechtsansprüche von entlassenen Gewerkschaftsfunktionären und -funktionärinnen gegenüber der Deutschen Arbeitsfront vertreten haben.

00:21:10: Maria Popov: So macht es zum Beispiel Jakob Kaiser von den christlichen Gewerkschaften. Er hat enge Verbindungen zu Wilhelm Leuschner, vielleicht waren die beiden sogar so was wie Freunde. Jakob Kaiser versucht durchzuboxen, dass die entlassenen GewerkschaftsfunktionärInnen zum Beispiel trotzdem eine Rente bekommen. Ein netter Nebeneffekt, dank seines Jobs kann er ohne Verdacht zu erwecken durch das Land reisen und mit seinen ehemaligen KollegInnen so Kontakt halten.

00:21:31: Michael Schneider: Das waren also legale Besuche, die offen stattfinden konnten, aber keiner konnte natürlich mithören, damals jedenfalls nicht, worüber die dann wirklich gesprochen haben. Und dann Vertreter, das war auch ein Beruf, mit dem man solche Kontakte unauffällig organisieren konnte. Gewerkschaftlicher Widerstand in der damaligen Zeit konnte natürlich nicht gewerkschaftlich in dem Sinne fungieren, dass man sagt, man baut eine Untergrundgewerkschaft auf. Man ist in irgendeiner Form tätig, wie Gewerkschaften tätig zu sein pflegen. Gewerkschaften sind auf Massenorganisation, auf Öffentlichkeit, auf Entscheidungs- und Willensbildungsprozesse angewiesen, die man öffentlich durchführen kann.

00:22:05: Maria Popov: Und das ist seit der Zerschlagung der Gewerkschaften unmöglich, stattdessen sieht der Widerstand der ehemaligen GewerkschafterInnen anders aus.

00:22:12: Michael Schneider: Das erste Ziel ist, sich zu treffen, sich gegen die NS-Propaganda-Tiraden gegenseitig zu immunisieren, die eigenen Werte zu bestätigen und dies in Kleingruppengesprächen. Und dann überlegt man, was kann man eigentlich tun? Und da sind die Wege ja nicht so sehr weit offen, was man unter den Bedingungen einer nationalsozialistischen Diktatur tun kann. Aber was man tun kann, ist, Informationen in den Betrieben sammeln, über die wahre Situation in den Betrieben, über die Konflikte, die es vor Ort gibt und diese Informationen weiterzugeben.

00:22:42: Maria Popov: Dafür gehen einige GewerkschafterInnen ins Exil, um dort über die deutschen Zustände zu berichten. Andere tauschen sich untereinander darüber aus, wie die Stimmung in ihren Betrieben ist und sie betreiben Mundpropaganda, verteilen Flugblätter und sprechen KollegInnen in der Mittagspause an.

00:22:57: Michael Schneider: Nicht offen für freie Gewerkschaften plädieren, das wäre viel zu gefährlich, aber sich danach zu erkundigen, wie zufrieden man denn mit den neuen Maßnahmen von Kraft durch Freude sei.

00:23:07: Maria Popov: Es ist ein leiser Widerstand, einer, der nicht auf Waffen beruht, sondern auf Worten, gegenseitigem Beistand und Ausharren.

00:23:14: Michael Schneider: Diese Form des Widerstandes hat zum Umsturz nicht beitragen können. Das sieht bei dem Netzwerk, in das Leuschner eingebunden war, ganz anders aus. Das hatte das Ziel, einen Umsturz herbeizuführen mit dem Attentat auf Hitler.

00:23:27: Maria Popov: Das Attentat, von dem Michael Schneider hier spricht, ist das vom 20. Juli 1944. Und mit seinem Kontaktnetz ist Leuschner für Stauffenberg und seinen Kreis sehr wichtig. Leuschner hat mit anderen Gewerkschaftern eine Untergrundorganisation aufgebaut, die Reichsleitung der deutschen Gewerkschaften.

00:23:42: Michael Schneider: Das klingt nun organisatorisch straffer, als es eigentlich gewesen sein kann unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Herrschaft, aber die unterhielten eben doch auch insgesamt Kontakte zu mehreren tausend ehemaligen Gewerkschaftern und Gewerkschafterinnen.

00:23:55: Maria Popov: Kontakte zu mehreren tausend ehemaligen GewerkschafterInnen. Und das im Untergrund, geheim, alles ohne Smartphones, Emails, Internet. Könnt ihr euch das vorstellen, wie riskant und aufwändig das gewesen sein muss? Die Menschen sind zwar auch telefonisch miteinander in Kontakt, die meiste Kommunikation läuft aber direkt, um möglichst wenig Spuren zu hinterlassen.

00:24:15: Michael Schneider: Und dies alles machte natürlich auch Leuschner mit seinen Kollegen aus der Gewerkschaftsbewegung interessant für diejenigen, die das Attentat vorbereiteten. Denn die brauchten ja für die Zeit nach dem Attentat, für den erfolgreichen Aufbau einer neuen Demokratie auch einen Unterbau.

00:24:33: Maria Popov: Klar, wenn das Attentat auf Hitler geglückt wäre, hätten Stauffenberg und seine Verbündeten in ganz Deutschland ein neues System aufbauen müssen. Dafür brauchte man Leute, von denen man wusste, dass sie weiterhin von einer Demokratie träumten. Außerdem hat Leuschner noch einen anderen Traum. Er will, dass sich die einzelnen Gewerkschaften im neuen System zu einer Einheitsgewerkschaft zusammenschließen. Aber wie genau war Leuschner eigentlich eingeweiht in die Pläne von Stauffenberg?

00:24:59: Michael Schneider: Ob Leuschner genau wusste, wann was passieren sollte, weiß man nicht. Aber dass er wusste, dass was passieren sollte, das weiß man. Aller Wahrscheinlichkeit nach war auch bekannt, dass Stauffenberg derjenige sein würde, der dieses Attentat ausüben musste. Kein anderer von denen, die in den Kreis der Vorbereiter des Attentats gehörten, hatten diesen persönlichen Zugang zu Hitler.

00:25:23: Maria Popov: Für die Zeit nach dem Attentat gibt es genaue Pläne, wer für welches Amt vorgesehen ist, und Leuschner hätte ganz oben mitspielen sollen.

00:25:30: Michael Schneider: Leuschner hätte eingebunden sein in die Regierung nach dem erfolgreichen Attentat, Goerdeler sollte Kanzler werden und Leuschner sollte Innenminister und Vizekanzler werden. Es gibt auch Papiere und Planungen, in denen Leuschner ein Reichskanzler werden sollte, aber das wohl verbindlichere war die des Innenminister und Vizekanzler.

00:25:50: Maria Popov: Auch für Jakob Kaiser und andere ehemalige GewerkschafterInnen sind wichtige Positionen in der neuen Regierung vorgesehen.

00:25:57: Michael Schneider: Die an sich ja konservativ geprägte Gruppe, die das Attentat vorbereitet hat, war in diesem Punkt von vornherein darauf angelegt, Teile der Arbeiterbewegung in das neue Kabinett einzubinden, um die damit zu stabilisieren und ihr einen nötigen Unterbau an öffentlicher Zustimmung zu sichern. Denn man muss sich ja klar machen, das Attentat fand zu einem Zeitpunkt statt, in dem noch immer eine übergroße Mehrheit der deutschen Bevölkerung und auch der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in einem trotzigen Durchhalteverhalten verharrten.

00:26:31: Maria Popov: Denn damals steht ein großer Teil der Deutschen hinter Hitler und dem Krieg, und wer verdächtigt wird, sich gegen Hitler zu engagieren, wird schnell denunziert. Und das wird auch Wilhelm Leuschner zum Verhängnis. An dem Tag des Attentats hat Stauffenberg, der durch seinen militärischen Rang Zugang zu Hitler hatte, eine Tasche mit einer Bombe in einem Besprechungsraum deponiert. Die Tasche konnte aber anders als geplant nicht direkt neben Hitler platziert werden. Ein Tisch fing Teile der Explosion zusätzlich ab. Hitler überlebt leicht verletzt, Stauffenberg wird noch am selben Tag hingerichtet.

00:27:09: Michael Schneider: Diejenigen, die am Tag des Attentats direkt vernetzt waren mit Stauffenberg, die sich vorher eben durch Telefongespräche Informationen haben kommen lassen und Informationen weitergegeben haben, sind am selben Tag im Bendlerblock in Berlin verhaftet worden und standrechtlich erschossen worden im Hof des Bendlerblocks. In der Aktion Gitter sind dann nach und nach immer weitere Kreise dieses Attentats aufgedeckt worden, zum Teil durch Folter. Max Habermann im Übrigen, einer der Gewerkschafter, die zu diesem Umfeld gehörten, er ist verhaftet worden und hat in der Haft Selbstmord begangen, weil er befürchtete, er könnte unter Folter andere verraten.

00:27:53: Maria Popov: Der engste Kreis der Verschwörer des Attentats wird also noch am selben Tag hingerichtet.

00:27:58: Michael Schneider: Obwohl es natürlich so ist, dass bei einem solchen Umsturzversuch Schriftlichkeit so weit wie irgend möglich vermieden werden sollte, war es eben nicht völlig der Fall, es ist der Gestapo innerhalb der nächsten Tagen und Wochen gelungen, immer mehr Kontakte dieses Kontaktnetzes aufzudecken und den Kreis der Verhafteten immer weiter auszudehnen.

00:28:17: *Musik*

00:28:23: Maria Popov: Wilhelm Leuschner taucht bei einer Freundin der Medizinstudentin Elly Deumer unter. Sie riskiert in diesen Tagen ihr Leben für ihn, denn er wird von der Gestapo gesucht. Leuschners Ehefrau Elisabeth wird währenddessen verhaftet, und weil sie den Aufenthaltsort ihres Mannes nicht verrät ins KZ Ravensbrück gebracht. Sie wird erst nach der Hinrichtung ihres Mannes am 29. September 1944 entlassen. Mitte August verlässt Leuschner sein Versteck. Einen Tag später wollen er und Elly Deumer sich bei einem befreundeten Arzt treffen, aber Leuschner kommt nicht zum verabredeten Treffpunkt. Jemand hat ihn verraten. Wer, das ist nicht bekannt. Am 08. September 1944 verliest Roland Freisler das Urteil gegen Leuschner und andere inzwischen verhaftete Eingeweihte des Attentats am 20. Juli.

00:29:27: O-Ton: Ehrgeizzerfressene, ehrlose, feige Verräter sind Carl Goerdeler, Wilhelm Leuschner, Joseph Wirmer und Ulrich von Hassell.

00:29:35: Maria Popov: Und weiter.

00:29:35: O-Ton: Statt mannhaft wie das ganze deutsche Volk dem Führer folgend unseren Sieg zu erkämpfen, verrieten sie das Opfer unserer Krieger, Volk, Führer und Reich. Sie werden mit dem Tode bestraft.

00:29:46: Michael Schneider: Die Katastrophe ist, dass diese Verfahren, die sollten ja auch abschreckend wirken, und dementsprechend sind sie in ganz rascher Folge, also Verhaftung, Verurteilung, Vollstreckung sind in ganz rascher Folge erfolgt.

00:29:55: Maria Popov: Auch in den letzten Tagen seines Lebens glaubt Wilhelm Leuschner noch fest an seinen Traum einer Einheitsgewerkschaft.

00:30:00: O-Ton: Morgen werde ich gehängt, schafft die Einheit.

00:30:03: Maria Popov: Dieses Zitat ist in den Gewerkschaften bis heute sehr bekannt. Es sind die letzten Worte, die von Wilhelm Leuschner übermittelt sind, bevor er von den Nationalsozialisten ermordet wird.

00:30:12: *Musik*

00:30:20: Jetzt fast 80 Jahre später stehe ich also an dem Ort, an dem Wilhelm Leuschner ermordet wurde.

00:30:29: Sabine Sieg: Genau, wir befinden uns jetzt hier in dem ehemaligen Hinrichtungsraum, der seit 1936 genutzt worden ist. Und hier sind an die 3.000 Menschen ermordet worden und unter anderem eben auch Wilhelm Leuschner.

00:30:48: Maria Popov: Das ist die Stimme von Sabine Sieg, sie arbeitet in der Gedenkstätte Plötzensee und ist dort für die Bildungsarbeit zuständig. Heute hat sie sich Zeit genommen, um mir die Gedenkstätte zu zeigen. Zusammen stehen wir in einem leeren Raum mit hoher Decke. Es riecht auch ein wenig muffig, die Wände sind weiß gestrichen, die Decke ist aus Holz und erinnert ein bisschen an eine Scheune. An der hinteren Wand des Raumes gibt es zwei kleine vergitterte Fenster. Ein Holzbalken geht von Wand zu Wand, daran sind fünf Metallhaken befestigt. Vor dem Fenster liegt ein Gedenkgesteck mit roten und weißen Rosen.

00:31:36: Sabine Sieg: Es gab hier eine Guillotine und ab 1942 auch diesen Balken, den man da hinten sehen kann, wo dann eben auch Haken eingelassen worden sind, und dort wurden dann Menschen eben erhängt. Jedes Detail macht das Ganze noch grausamer und noch schwieriger nachzuvollziehen. Und ich merke aber auch durch die Gefühle, die da hochkommen, wie wichtig das ist, die auszuhalten und sich damit zu beschäftigen.

00:32:04: Maria Popov: Sabine Sieg hat mich dann noch mitgenommen in den zweiten Raum der Gedenkstätte, der war plötzlich gar nicht mehr so kalt und kahl, sondern voller Erinnerungen.

00:32:14: Sabine Sieg: Ja, hier wird einerseits die Geschichte des Strafgefängnis Berlin Plötzensee dargestellt, es werden auch die Prozesse dargestellt. Also Prozesse im Sinne von, was ist passiert, wie haben hier diese Hinrichtungen stattgefunden, wie ist das bürokratisch abgelaufen? Es werden aber auch exemplarisch Personen vorgestellt, die hier ermordet worden sind, aufgrund ihres Widerstandes gegen den Nationalsozialismus.

00:32:36: Maria Popov: Hier wird unter anderem auch an die Mitglieder des Attentats vom 20. Juli ’44 erinnert. Aber auch andere Namen findet man an den Wandtafeln und im digitalen Totenbuch.

00:32:45: Sabine Sieg: Da gibt es beispielsweise eine sehr junge Frau aus der Ukraine, die hieß Kalina Ramanova, die als Zwangsarbeiterin hier nach Deutschland gekommen ist, eine junge Ärztin, die eben in den Zwangsarbeiterlagern dann eben geholfen hat und auch Kontakt hatte zu anderen Widerstandsgruppen und die eben auch hier, ich glaube, sie war auch 21 oder 22 auch in dem ganz jungen Alter hier ermordet worden ist. In so einem jungen Alter sich dann schon so auch dieser Gefahr auszusetzen, und die meisten, die ja Widerstand geleistet haben, ob es jetzt Wilhelm Leuschner war oder andere, die waren sich ja darüber bewusst, dass das gefährlich ist, was sie machen.

00:33:12: Maria Popov: Zum Abschluss wollte ich von Sabine Sieg noch wissen, dass wir von den WiderstandskämpferInnen lernen können.

00:33:16: Sabine Sieg: Also ich glaube, was wir mitnehmen sollten, ist, die Courage und den Mut auch gegen seinen Zeitgeist, wenn ich das mal so sagen darf, wobei es ein falsches Wort ist, der Nationalsozialismus war kein Zeitgeist, aber also mutig zu sein und zu gucken und sich eine eigene Meinung zu bilden und diese Meinung dann auch zu vertreten.

00:33:32: Maria Popov: Leider merken Sabine Sieg und ihre KollegeInnen in der Gedenkstätte immer häufiger, dass das Wissen über die deutsche Geschichte bei vielen Menschen in Vergessenheit gerät.

00:33:40: Sabine Sieg: Das stellen wir immer mehr fest, dass wir immer viel stärker noch mal in die Anfänge gehen müssen. Dass bestimmte Dinge nicht mehr vorauszusetzen sind. Und das würde ich mir wünschen, dass wir tatsächlich immer noch Zeit und Gelegenheit haben, da die Menschen zu erreichen und auch mitzunehmen und auch zu sensibilisieren für diese Themen, die damals wichtig waren, aber sicherlich heute auch noch genauso wichtig sind.

00:33:57: Maria Popov: Die Wissenschaft ist weiterhin dabei, die Geschichte von Menschen zu ergründen, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, um sich gegen den Nationalsozialismus zu wehren.

00:34:04: Sabine Sieg: Wir sehen es ja gerade heute, wie wichtig das ist, und gerade die Auseinandersetzung mit einer Zeit, in der Gewalt, Terror, Manipulation stattgefunden hat, sich da noch mal auseinander mit zu setzen, halten wir für sehr, sehr wichtig, um eben, so banal es immer klingt, aber für die Zukunft auch zu lernen. Gerade auch wenn man sich mit Widerstand gegen den Nationalsozialismus beschäftigt, kann das schon aus unserer Sichtweise beispielgebend sein. Also Menschen sich anzuschauen, die vielleicht am Anfang auch erst mal so unentschieden waren, nicht genau wussten, was sie mit dem Nationalsozialismus anfangen sollen, dann aber mit der Zeit immer mehr verstanden haben, was das bedeutet und dann irgendwann gesagt haben, ich mache das nicht mehr mit, ich versuche irgendwas dagegen zu machen.

00:34:40: *Musik*

00:34:47: Maria Popov: Laut seine Meinung zu sagen und sich zusammenzutun und für das einzustehen, woran man glaubt, all das ist wichtig für unsere Demokratie. Der Blick zurück in die Geschichte zeigt, dass es selbst in den dunkelsten Momenten Menschen gab, die das gemacht haben. Ihr Widerstand sah nicht immer gleich aus. Manche haben versucht, den Nationalsozialismus mit Bomben zu stoppen, manche mit Flugblättern oder indem sie sich vernetzt haben. Damit Demokratiefeinde keine Chance haben, ist es wichtig, dass wir uns an diesen Mut erinnern. Ob es nun berühmte Persönlichkeiten wie Wilhelm Leuschner waren oder eher unbekannte Personen wie Kalina Ramanova. Und es braucht Erinnerungsorte wie zum Beispiel die Gedenkstätte Plötzensee, denn Erinnern ist auch immer ein Teil gelebte Demokratie.

00:35:33: *Musik*

00:35:52: Das war „Geschichte wird gemacht“. Die nächste Folge erscheint in sechs Wochen, da schauen wir dann auf die Gründung des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Abonniert doch den Podcast, um sie nicht zu verpassen. Wenn euch diese Folge gefallen hat, dann lasst uns auch gerne eine Bewertung da und empfehlt uns weiter. Vielen Dank an Stefan Heinz von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand für sein Hintergrundwissen. „Geschichte wird gemacht“ ist eine Produktion von hauseins im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung. Ich bin eure Host Maria Popov. Redaktion: Katharina Alexander für Hauseins und Dieter Pougin für die Hans-Böckler-Stiftung. Produktionsleitung: Melanie Geigenberger. Schnitt und Sounddesign: Joscha Grunewald. Tschüss und bis zum nächsten Mal.

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