Keine Demokratie ohne Gewerkschaften – 75 Jahre DGB
Shownotes
Betriebe sind Orte der gelebten Demokratie! Das vermitteln junge DGB Teamer*innen an Berufsschulen. Und der Blick in die Geschichte zeigt: Betriebe sind auch der Ursprungsort für die Demokratisierung der deutschen Nachkriegsgesellschaft nach dem Ende der Nazi-Diktatur 1945. Direkt nach der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht gründen sich deutschlandweit Betriebsausschüsse, um die Produktion, Wirtschaft und Lebensbedingungen demokratisch mitzugestalten. Und aus der Zerschlagung der freien Gewerkschaften 1933 wurde die Lehre gezogen, den Richtungsstreit in der Arbeiterbewegung zu überwinden und geeint zu handeln. Bis zur Gründung der Einheitsgewerkschaft, dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB,) in München am 13. Oktober 1949 sollte es allerdings noch ein schwieriger Weg werden. Wie kam’s dazu? Welche Bedeutung hatte und hat der DGB für die Gestaltung einer sozialen Demokratie? Und inwieweit profitieren wir davon bis heute?
„Geschichte wird gemacht” ist eine Produktion von Hauseins im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung.
Host: Maria Popov Redaktion: Stefanie Groth und Katharina Alexander für Hauseins; Dieter Pougin für die Hans-Böckler-Stiftung Produktionsleitung: Melanie Geigenberger und Stefanie Groth Schnitt und Sounddesign: Joscha Grunewald
Links und Hintergründe
- Yasmin Fahimi, 75 Jahre DGB. Der Macht- und Gestaltungsanspruch des Deutschen Gewerkschaftsbundes zwischen Kontinuität und Wandel 75 Jahre DGB
- DGB Bildungswerk Bund
- Schneider, Michael: Kleine Geschichte der Gewerkschaften: Ihre Entwicklung in Deutschland von den Anfängen bis heute
- FES: 100 Jahre gewerkschaftlicher Dachverband. Dokumente zur Entwicklung seines Selbstverständnisses
- 1945-1949: Die Einheitsgewerkschaft schaffen - Geschichte der Gewerkschaften
- IG Metall feiert das Grundgesetz und sorgt sich um die Demokratie faz.net
- Geschichte im Original · Gründung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) Podcast in der ARD Audiothek
- Bewegte Zeiten - DGB-Geschichte - YouTube
Weiterführende Literatur
- Dokumentation. 100 Jahre gewerkschaftlicher Dachverband zur Entwicklung seines Selbstverständnisses, S. 14-17, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 1992,4
- Götz, Christian: Die Hoffnungen auf eine „neue Gesellschaft“ erfüllten sich nicht. 25 Jahre DGB: Anmerkungen zu einem „Silbernen Jubiläum“, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 1974, 10
- Mommsen, Hans: Die Gewerkschaftsanfrage in den Neuordnungsplänen des deutschen Widerstands gegen Hitler, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 1994/10-a 624
- Uellenberg-van Dawen, Wolfgang: Gewerkschaften in Deutschland von 1848 bis heute. Ein Überblick, 1997, 2. Auflage
Transkript anzeigen
00:00:00: 0 *Musik und Demonstrationsrufe*
00:00:23: 2 Maria Popov: Hey, ich bin Maria Popov. Und ihr hört „Geschichte wird gemacht“.
00:00:27: 0 Yasmin Fahimi: Wie viel Miete muss ich eigentlich für meine Wohnung bezahlen, kann ich von meinem Job leben, habe ich eine verlässliche Gesundheitsversorgung, bekommen meine Kinder eine gute Bildung, ohne dass ich dafür bezahlen muss?
00:00:40: 1 Maria Popov: Das ist Yasmin Fahimi. Sie ist die Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds. Und die Fragen, die sie hier stellt, sind ja total zentral für unser Leben. Darum sind es auch die Themen, für die sich der DGB, der Deutsche Gewerkschaftsbund einsetzt.
00:00:55: 0 Yasmin Fahimi: Und da müssen wir sehr hart daran arbeiten, wieder deutlich zu machen, um was es eigentlich geht. Um gerechte Verteilung von Vermögen, um gerechte Entwicklung von Löhnen, um gute Gestaltung des sozialen friedlichen Miteinanders und natürlich auch um gute Arbeitsbedingungen, damit die Menschen gesund bleiben und ein glückliches selbständiges Leben führen können. Das sind die eigentlichen Fragen.
00:01:17: 7 Maria Popov: Wir werden später mehr von Yasmin Fahimi hören. Heute, also an dem Tag, an dem diese Folge erscheint, dem 13. Oktober 2024, feiert der Deutsche Gewerkschaftsbund einen besonderen Jahrestag.
00:01:31: 4 *Musik*
00:01:34: 4 Vor 75 Jahren wurde der DGB in München gegründet! Warum das ein riesiger Grund zum Feiern ist, erzählen wir euch in dieser Folge. Als Dachverband von acht Einzelgewerkschaften vertritt der DGB die Interessen von 5,7 Millionen Mitgliedern gegenüber dem Bundestag, den Landesparlamenten und in den Städten, Gemeinden und Landkreisen und auch in der Öffentlichkeit. Ziemlich viel Einfluss also. Wenn etwa Gesetzentwürfe in den Ausschüssen und Parlamenten diskutiert werden, beteiligen sich Expert*innen des DGB mit Gutachten und Stellungnahmen. Er ist auch für die gewerkschaftliche Interessenvertretung in Sozialversicherungen, bei der Bundesagentur für Arbeit, in den Handwerkskammern und an Arbeits- und Sozialgerichten zuständig. Der DGB ist in den Rundfunkräten und Landesmedienanstalten vertreten. Und er mischt auch bei der Bildungspolitik mit.
00:02:28: 2 Dozentin: Wir sind am TBZ, das ist eine sehr große Berufsschule, es ist DIE Berufsschule für Metalltechnik und Elektro. Ich teil mal kurz meinen Bildschirm und zeige euch den Ablaufplan.
00:02:43: 0 Maria Popov: Was ihr hier hört, ist eine Online-Konferenz, in der sich acht Studierende auf ihren nächsten Berufsschulbesuch vorbereiten. Studierende an der Berufsschule? Ihr habt richtig gehört, denn die sind neben ihrem eigenen Studium an der Uni als sogenannte Teamer für den DGB unterwegs. Und sie betreuen Projekttage zu Demokratie und Mitbestimmung. An diesen Tagen besuchen sie Berufsschüler*innen und sprechen mit ihnen darüber, wie sie sich für ihre Rechte als Auszubildende einsetzen und wie sie sich gegenseitig bei Konflikten mit dem Arbeitgeber unterstützen können. Der nächste Projekttag ist an einer Bremer Berufsschule, wo sie mit den Azubis für Elektrotechnik darüber sprechen, wie gelebte Demokratie in ihren Ausbildungsbetrieben aussehen kann.
00:03:23: 5 Dozentin: Donnerstag oder Freitag bekommt ihr nochmal eine Email mit allen wichtigen Informationen, die ihr braucht. Die Tarifverträge für Metall und Elektro, die bekommt ihr noch. Wir werden auch einen Stand im Foyer aufbauen und werden in den Pausen mit den Schüler*innen ins Gespräch kommen.
00:03:39: 9 *Musik*
00:03:42: 1 Maria Popov: Zwei, die als Teamerinnen für den DGB regelmäßig an Berufsschulen gehen, sind Adriana Lamar Finkel und Josephine Kurth.
00:03:49: 6 Josephine Kurth: Das ist immer, glaube ich so ein Aha-Moment für viele dieser SchülerInnen, die aus der Schule kommen, wo Mitbestimmung häufig kein großes Thema ist, wo einem alles vorgesetzt wird und dann in der Berufsschule ähnlich, dass einem alles vorgesetzt wird, dass man irgendwie wenig Mitspracherecht hat.
00:04:04: 6 Maria Popov: Das ist Josephine. Sie studiert Politikwissenschaften und ist Stipendiatin der Hans-Böckler- Stiftung. So richtig in Kontakt mit Gewerkschaftsarbeit ist sie durch den Kampf um den TV STUD gekommen, also der Tarifvertrag für studentische Beschäftigte, vielleicht erinnert ihr euch? Darüber haben wir in unserer allerersten Folge hier in “Geschichte wird gemacht” berichtet. Josephine wollte danach mehr machen und mehr erreichen. Und deshalb ist sie Teamerin in den Berufsschulen geworden. Bevor sie sich das erste Mal vor eine Berufsschulklasse gestellt hat, gab es eine einwöchige Schulung, in der die Teamer auf die Projekttage in den Berufsschulen vorbereitet werden.
00:04:41: 8 Josephine Kurth: Mir ist es tatsächlich einer der wichtigsten Punkte an diesem ganzen Projekttag, ihnen zu vermitteln, dass sie direkt Einfluss haben und dass es eben nicht nur ist, man wählt irgendjemanden oben und dann passiert vielleicht irgendwas oder auch nicht, sondern dass man tatsächlich mit dem Betriebsrat oder Personalrat direkt sprechen kann, dass man selber auch davon Teil sein kann, dass man sich selber einsetzen kann und dass man ein Recht dazu hat. Ich glaube, für diese SchülerInnen zu merken, ich habe Macht und ich darf diese Macht auch irgendwie nutzen oder ich darf die mit anderen zusammen nutzen, ist was, was wenn dieser Moment aufkommt, da freue ich mich dann, wenn ich so merke, ich glaube, ich habe das vermitteln können.
00:05:22: 2 Maria Popov: Dabei ist das Vorwissen rund um Gewerkschaften und Arbeitsrechte bei den BerufsschülerInnen je nach Klasse und Ausbildungsberuf oft sehr unterschiedlich.
00:05:30: 6 Josephine Kurth: Viele haben auch Fragen, was sie machen können, wenn ihnen Unrecht passiert. Aber eben auch, was habe ich denn davon, wenn ich mich engagiere? Und es gab aber auch schon Begegnungen von Leuten, die sehr anti-Gewerkschaft waren und die sehr stark waren, nee, ich mische mich da nicht ein, das ist nicht mein Ding, ArbeiterInnenbewegung, ich bin ja einfach nur angestellt ich mache ja einfach nur. Diese Idee der Solidarität nochmal rüberzubringen, zu sagen, du kannst aber jemand anderem helfen, wenn du mitmachst, auch wenn es dir persönlich vielleicht gar nicht so schlecht geht. Also, das hören wir halt auch relativ häufig: “Ja bei mir ist ja alles super, mein Chef ist ja super nett, bei uns ist alles toll.” Und dann hörst du aber fünf Minuten später deine MitschülerInnen, die erzählen, dass sie schreckliche Sachen erleben. Und dann sage ich meistens, wenn du jetzt aber mit in die Gewerkschaft gehst, dann kannst du deiner MitschülerIn helfen.
00:06:19: 5 Maria Popov: Den Teamern des DGB ist es wichtig, dass die Auszubildenden über ihre Rechte informiert werden, weil sie oft in besonderem Maße von Ungerechtigkeit betroffen oder benachteiligt sind. Weil sie überdurchschnittlich oft aus Arbeiterfamilien kommen, mit hohen Mieten und hohen Preisen für Mobilität konfrontiert sind und oft nur sehr geringe Ausbildungsvergütungen bekommen. Oft erleben sie auch, dass es nicht nur darum geht, Wissen zu vermitteln, sondern wie wichtig es ist, den BerufsschülerInnen überhaupt erstmal zuzuhören. Das berichtet Adriana – sie studiert Kulturwissenschaften, und ist seit einem halben Jahr Teamerin für BerufsschülerInnen in Bremen und Umgebung.
00:06:59: 2 Adriana Lamar Finkel: Da habe ich dann in der ersten Woche, wo ich an der Berufsschule war, auch gemerkt, dass die BerufsschülerInnen denken, es ist in Ordnung, dass sie gezwungen werden, Minusstunden zu machen oder eben Überstunden machen müssen oder reinkommen müssen, sobald irgendwie der Arbeitgeber anruft und sagt, jo, ich brauche dich aber gerade, oder dass sie ihr Betriebsheft in ihrer Freizeit schreiben müssen, dass es nicht angerechnet wird. Also es sind so „Kleinigkeiten“, die aber absolut keine Kleinigkeiten sind, sondern die einfach maßgeblich deine Lebensqualität beeinträchtigen und deine Erfahrung innerhalb der Berufsschule.
00:07:40: 0 Maria Popov: Neben Ungerechtigkeiten, die mit der Arbeitszeit, der Belastung oder ähnlichem zu tun haben, hören die Teamer aber auch von Diskriminierungserfahrungen.
00:07:48: 2 Adriana Lamar Finkel: Da haben wir auf jeden Fall auch schon was zu hören bekommen, dass irgendwie, ja Mädchen mit Kopftuch oder Frauen mit Kopftuch diskriminiert werden, mehr arbeiten müssen, oder auch eine sexistische Komponente hat das natürlich. Im Sinne von, dass die Person gezwungen wurde, basically mehr zu arbeiten, als eine andere Person und bestimmte Arbeiten zu verrichten, die eigentlich nicht im Ausbildungsverhältnis drinstehen. Also, das ist ja auch ein großes Problem, was tatsächlich auch oft berichtet wird, aber oft hat das dann irgendwie schon auch noch mal eine Gender-Komponente oder eben eine Rassismus-Komponente, wenn dann eben bestimmte Menschen dazu aufgefordert werden, jetzt nochmal alles zu putzen oder länger zu bleiben.
00:08:37: 0 Maria Popov: Da Josephine und Adriana so nah dran sind an den Auszubildenden, aber auch an den Gewerkschaften und dem Deutschen Gewerkschaftsbund, der dieser Projekttage organisiert, haben sie auch Ideen, wo noch Luft nach oben ist.
00:08:48: 5 Josephine Kurth: Man muss noch mehr überlegen, wie erreiche ich die Menschen, die noch nicht bei Gewerkschaften sind. Wie erreiche ich vor allem vulnerable Gruppen, sei es queere Menschen, Personen mit Migrationsgeschichte oder andere Gruppen. Ich glaube, dass die noch fehlen und die auch häufig nicht ignoriert unbedingt, aber ein bisschen vernachlässigt werden. Ich glaube, da ist noch sehr, sehr viel zu machen.
00:09:10: 5 Maria Popov: Adriana wünscht sich zudem mehr gesellschaftspolitische Positionierung und konkrete Aktionen.
00:09:16: 3 Adriana Lamar Finkel: Also genau, ich glaube, das ist die Rolle von Menschen innerhalb der Gewerkschaft, da irgendwie wieder mehr an die Basis zu kommen und eben aktiver und direkter mit ArbeiterInnen zusammenzuarbeiten und wirklich auch deren Bedürfnisse und deren Forderungen ernst nehmen und eben auch die politischen, also nicht nur die Forderungen, die dann nur innerhalb des Betriebs existieren, sondern auch die, die breiter gehen. Also zum Beispiel eben auch antifaschistische Forderungen oder antirassistische Forderungen, gerade jetzt in der Gesellschaft, wo wir so einen krassen Rechtsruck erleben.
00:09:52: 3 *Musik*
00:09:54: 2 Maria Popov: Gelebte Solidarität und demokratische Mitbestimmung, das ist etwas, dass man selbst mitgestaltet, beispielsweise am eigenen Arbeitsplatz, das ist, was die TeamerInnen des DGB den Azubis mitgeben wollen. Und das ist auch der Kern der Gründungsgeschichte des DGB: Die Betriebe als jene Orte, an denen die Demokratisierung Deutschlands nach Ende des Zweiten Weltkriegs ihren Anfang nahm.
00:10:17: 8 Winston Churchill: Yesterday morning at 2:41 a.m. at General Eisenhowers Headquarters, General Jodl, the representative of the German High Command, and Grand Admiral Doenitz, the designated head of the German State, signed the act of unconditional surrender of all German Land, sea, and air forces in Europe.
00:10:52: 9 Maria Popov: Hier spricht Winston Churchill. Der damalige britische Premierminister verkündete am 8. Mai 1945 die Kapitulation der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Es ist ein außerordentlicher, ein historischer Moment, auf den die Welt viele Jahre gehofft hat.
00:11:09: 4 NachrichtenSprecher: This is the news that electrified the world, unconditional surrender. General Smith’s signature is a symbol of a new world of peace.
00:11:20: 7 Maria Popov: Nachrichten, die die Welt elektrisieren! Bedingungslose Kapitulation! Die Welt feiert eine neue Welt, die von Frieden geprägt sein soll. Und die Deutschen? Sie stehen vor den Trümmern der zwölfjährigen NS-Diktatur und eines sechsjährigen Angriffskrieges.
00:11:38: 7 Michael Schneider: Die Situation war katastrophal. Deutschland war im wahrsten Sinne des Wortes ein Trümmerfeld. Diejenigen, die einen totalen Krieg angezettelt haben, haben eine totale Niederlage erlebt.
00:11:49: 8 Maria Popov: Das ist der Historiker Michael Schneider.
00:11:52: 8 Michael Schneider: Für die Menschen eine schiere Katastrophe. Versorgungswege unterbrochen, die Lebensmittelversorgung zusammengebrochen, die Häuser zerstört, die Familien zerrissen, die Arbeitsplätze in Gefahr, wenn sie nicht sowieso zerstört waren. Millionen von Menschen irrten durch Europa, die ehemaligen Zwangsarbeiter, die Entlassenen aus den Konzentrationslagern, Vertriebene, Flüchtlinge, Ausgebombte, Familien, die zusammengesucht, sich wieder gefunden haben oder eben noch jahrzehntelang suchen sollten. Also insgesamt eine katastrophale Situation, die dadurch noch verschlimmert wurde, dass einem die eigene Schuld, das eigene Versagen, an einem moralischen Verbrechen mitgewirkt zu haben, vor Augen geführt worden ist.
00:12:42: 4 Maria Popov: Insgesamt kamen im Zweiten Weltkrieg über 60 Millionen Menschen ums Leben. Darunter sechs Millionen Jüdinnen und Juden, die im Holocaust, dem systematischen und industriellen Massenmord durch das NS-Regime umgebracht wurden. Wie soll, wie kann es nun weitergehen in Deutschland? Wo anfangen mit dem Wiederaufbau? Bevor die Politik Antworten auf diese Fragen geben kann, sind es die ArbeiterInnen, die den Neuanfang kurzentschlossen selbst in die Hand nehmen!
00:13:12: 1 Michael Schneider: Also viele derjenigen, die vor 1933 in Gewerkschaften aktiv waren, haben sofort nach dem Ende des Krieges, und zwar immer schon da, wo die alliierten Truppen durchgezogen waren, Gewerkschaften wieder gegründet. Es war die Generation der Älteren, also diejenigen, die schon gewerkschaftliche Erfahrungen hatten, die die Gewerkschaften wieder gegründet haben, die Betriebsgruppen gebildet haben, die Betriebsräte gebildet haben, die also über die Betriebe den Beginn eines neuen Deutschlands, eines friedlichen Deutschlands, eines demokratischen Deutschlands angestoßen haben.
00:13:45: 1 *Musik*
00:13:49: 0 Maria Popov: Die ersten gewerkschaftlichen Vereinigungen entstehen sogar noch vor der Kapitulation der Wehrmacht. In Aachen etwa, der ersten befreiten Stadt in Deutschland, wird bereits eineinhalb Monate vor der Kapitulation, am 18. März 1945 mit der Genehmigung der Besatzungsmacht der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund für Aachen gegründet. Und so geschieht es nach und nach auch in anderen Städten. Ihr merkt, da passiert in kurzer Zeit einiges und das an vielen Orten zugleich. Die Demokratisierung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in den Betrieben vorangetrieben. Einerseits streben die wiedergeborenen Gewerkschaften nach Mitbestimmung am Arbeitsplatz und einer Demokratisierung der Wirtschaft. Andererseits gibt es den Wunsch nach einer Einheitsgewerkschaft.
00:14:35: 6 Michael Schneider: Viele von denen, die mal in der inneren Immigration, mal im Widerstand gewesen sind gehörten zur Arbeiterbewegung, die ja 1933 im Frühjahr zerschlagen worden ist. Es gehört zu den verblüffenden Sachen, dass vor allem der Gewerkschaftsgedanke die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur überlebt hat.
00:14:55: 5 Maria Popov: Aber wie ist es den Gewerkschaftern gelungen, trotz ihrer Zerschlagung 1933, über die Kriegsjahre ein Netzwerk aufrecht zu erhalten, dass nach Kriegsende so schnell wiederbelebt werden konnte?
00:15:06: 7 Michael Schneider: Was eine ganz große Rolle spielte damals, war persönlicher Kontakt, und es gehört ja zu den Netzwerken der Gewerkschaften, der Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen während der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur, dass sie ja ein Netzwerk aufgebaut hatten von mehreren Tausend vor allen Dingen ehemaligen Funktionären und Funktionärinnen der Gewerkschaftsbewegung, die auch in dieser Zeit persönlichen Kontakt zueinander hielten. Die konnten natürlich nicht miteinander telefonieren, sie haben auch keine Briefe geschrieben, sondern es ging darum, dass man in kleinen Gruppen sich traf, sich einerseits immunisiert hat gegen die Propaganda der Nationalsozialisten und andererseits die eigenen Werte bestätigt hat und Pläne für die Zeit nach dem Ende der Diktatur gemacht hat. Und diese Netzwerke ließen sich auch, weil sie ganz stark auf persönlichem Vertrauen gewachsen waren, nach dem Ende des Krieges in den jeweiligen Regionen wiederbeleben.
00:16:01: 4 Maria Popov: Nach der NS-Diktatur an die Strukturen von zuvor wieder anknüpfen zu können, das muss man erstmal schaffen. Nachdem klar ist, dass Deutschland den Krieg verloren und vor den Alliierten bedingungslos kapituliert hat, tauchen viele der Unternehmer, also die Arbeitgeber bzw. Betriebsführer unter, weil sie als Nazis belastet sind, oder sie verschwinden von der Bildfläche, weil viele von den Besatzungsmächten verhaftet werden. Die Betriebe stehen also häufig ohne Leiter da. Aber es gibt die Belegschaften und die wählen Betriebsräte, die sich um die Wiederaufnahme der Produktion kümmern. Doch die ersten Jahre waren nicht leicht. Ein Betriebsrat aus dem Ruhrgebiet erinnert sich.
00:16:44: 4 Sprecher: Wir mussten zunächst einmal für Essen, Kleidung, Schuhe und Lebensmittel sorgen. In den Betrieben musste die Produktion wieder angekurbelt werden, und die ganze Belegschaft hat die Ärmel hochgekrempelt und fest zugepackt. Das waren die Probleme neben Demontage und Entnazifizierung, vor denen wir standen und mit denen wir fertig werden mussten.
00:17:06: 2 Michael Schneider: Auf jeden Fall waren die Produktionsbedingungen in vielen Fällen sehr schwierig. Die Netzwerke von Betriebsräten untereinander haben dazu beigetragen, die zur Produktion notwendigen Materialien zu beschaffen. Und eine ganz wichtige soziale Funktion haben die Betriebsräte oftmals unternommen, eben auch über ihre Netzwerke haben sie einen Beitrag dazu leisten können, dass die Belegschaften einen Teil von Nahrungsmitteln erhalten haben und im Winter 1945/46 dann auch Heizmaterialien. Das heißt, es ging nicht nur um die Wiederaufnahme der Produktion und um die Sicherstellung dieser Produktion, sondern es ging auch um die allgemeine Lebensvorsorge, um die sich Betriebsräte vielfach mitgekümmert haben. Wogegen sie sich stark positioniert haben, wie die Gewerkschaften im Übrigen auch, das sind die Demontagen.
00:17:55: 1 *Musik*
00:17:58: 0 Maria Popov: Mit Demontagen meint Michael Schneider den Abbau von Maschinen, Gebäuden oder auch von ganzen Industrieanlagen. Das betrifft vor allem die deutsche Eisen- und Stahl- sowie die chemische Industrie. Aber auch Betriebe des Maschinen- und Fahrzeugbaus sollen auf Beschluss der Alliierten demontiert werden. Die verfolgen damit zwei Ziele: Einmal dienen die abgebauten Teile als Reparationsleistungen, also als Wiedergutmachung für Kriegsschäden in anderen Ländern. Zum anderen geht es auch darum, den Wiederaufbau einer Rüstungsindustrie in Deutschland zu verhindern. Betriebsräte und Gewerkschaften sprechen sich damals gegen die Demontagen aus, weil damit Arbeitsplätze verloren gingen.
00:18:38: 4 Michael Schneider: Also gerade solche Fragen, da gab es eine Zusammenarbeit zwischen Betriebsräten und den Gewerkschaften. Gewerkschaften haben sich selber ja erst mal im kleinen Kreis getroffen, haben Pläne für den Organisationsaufbau entworfen und haben erste programmatische Überlegungen angestellt, die vielfach auf dem aufbauten, was im Widerstand an Programmentwicklungen vorhanden gewesen ist.
00:19:04: 3 Maria Popov: Zwei zentrale Lehren haben die GewerkschafterInnen aus der Vergangenheit gezogen.
00:19:08: 5 Michael Schneider: Die zentrale Lehre war mit Sicherheit: Schafft die Einheitsgewerkschaft!
00:19:12: 6 Maria Popov: Also die Überwindung der Richtungsgewerkschaften, also Zusammenschlüsse, die sich in irgendeiner Form politisch oder weltanschaulich gebunden sahen. Das zu überwinden hatte sich ja in der Endphase der Weimarer Republik schon angebahnt, fand aber am 2. Mai 1933 mit der Zerschlagung der Gewerkschaften durch die Nationalsozialisten ein jähes Ende. Wobei eben nicht ganz, denn…
00:19:36: 0 Michael Schneider: …Im Exil und im Widerstand war es völlig selbstverständlich, dass Gewerkschafter aller Richtungen zusammengearbeitet haben, oftmals auch unter Einschluss der kommunistischen. So, das ist nach 1945 zumal dann noch das Vermächtnis von Wilhelm Leuschner, der seinen Widerstand in der Widerstandsgruppe vom 20.Juli 1944 mit dem Leben bezahlt hat, zumal ja sein Vermächtnis “Schafft die Einheit”, auch eine Aufforderung war, nun wirklich die Richtungsspaltung in der Arbeiterbewegung zu überwinden. Mit anderen Worten die erste Lehre aus Niederlage, aus Widerstand und aus dem Willen zu einem demokratischen Neuaufbau gemeinsam zu wirken, war die Schaffung der Einheitsgewerkschaft.
00:20:19: 6 Maria Popov: Und die zweite große Lehre aus der Vergangenheit war: Die Gewerkschaften müssen in der Wirtschaft mitbestimmen – es ging also darum, die Wirtschaft zu demokratisieren.
00:20:29: 4 Michael Schneider: Dazu gab es mehrere Vorstellungen. Die Zentrale war: Schaffung von Gemeineigentum bei Schlüsselindustrien, Schaffung einer zentralen Planwirtschaft, aber auch und vor allem Mitbestimmung. Mitbestimmung in den Vorständen und Mitbestimmung in den Aufsichtsräten der Großunternehmen. Das waren die beiden großen Lehren von der Niederlage 1933, von der man sich ja immer sagen musste, es war zum Teil sicherlich darauf zurückzuführen, dass die Arbeiterbewegung gespalten war und da war eben bei der Gewerkschaftsbewegung die große Spaltung zwischen christlichen und freien Gewerkschaften, aber natürlich bezogen auf die Arbeiterbewegung von noch dramatischerem Ausmaß die Spaltung in Kommunisten und Sozialdemokraten, die eine gemeinsame Arbeit, ein gemeinsames Verhalten zum Schutz der Republik 1933 verboten hat oder ausgeschlossen hat, das war eine der Lehren, die nach 1945 zu einer tiefen Sehnsucht nach der Überwindung der Spaltung geführt hat.
00:21:28: 5 Maria Popov: Das ist eine Sehnsucht, die zuerst in der sowjetischen Besatzungszone zur Realität wurde. Denn Deutschland war ja in dieser Zeit in vier Besatzungszonen eingeteilt, im Westen die amerikanische, die britische, die französische und im Osten die sowjetische. Und mit dem Segen der sowjetischen Besatzungsmacht wurde in der sowjetischen Besatzungszone schon sehr früh mit dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund eine zentrale Einheitsgewerkschaft gegründet, die man im Westen zu der Zeit noch anstrebte.
00:21:58: 3 Michael Schneider: Bereits im Februar 1946 ist sie gegründet worden als zonenweiter Zusammenschluss einer Gewerkschaftsbewegung. Ein ganz anderes Modell als das, das in den westlichen Besatzungszonen verfolgt worden ist. Aber das in der sowjetischen Besatzungszone sehr rasch in den Sog des Einflusses der Sozialistischen Einheitspartei gekommen ist, sodass eine freie Gewerkschaftsbewegung, eine unabhängige Gewerkschaftsbewegung sich in der DDR nicht hat entwickeln können.
00:22:29: 1 Maria Popov: In den westlichen Besatzungszonen läuft es anders ab. Dort haben Frankreich, Großbritannien und die USA das Sagen.
00:22:35: 6 Michael Schneider: Das heißt, jeder einzelne Schritt der Gewerkschaftsentwicklung wurde von den Besatzungsmächten jeweils gestattet oder aber hinausgezögert.
00:22:44: 7 Maria Popov: Aber der Wunsch, die eigenen Arbeits- und Lebensverhältnisse wieder autonom und souverän zu gestalten, der war nach 1945 sehr groß. Der Elan, mit dem GewerkschafterInnen an die Arbeit gehen, sich zu organisieren, wird von den drei Besatzungsmächten allerdings streng überwacht, und er teils auch ausgebremst.
00:23:03: 3 *Musik*
00:23:08: 6 Die Besatzungsmächte sind den Gewerkschaften gegenüber ambivalent eingestellt. Man braucht sie zum Aufbau eines demokratischen Deutschlands, das schon. So werden gewerkschaftliche Zusammenschlüsse noch vor den Parteien zugelassen, man braucht und nutzt ihre Mithilfe beispielsweise in den Entnazifizierungsausschüssen oder beim Aufbau der Arbeitsämter. Zugleich fahren die Alliierten eine restriktive Politik, da sie der Demokratiefähigkeit der Deutschen misstrauten und die Sorge groß ist, dass ein zu schneller gewerkschaftlicher Aufbau, undemokratische Strukturen auch begünstigen könnte.
00:23:45: 5 Michael Schneider: Von daher war von Seiten der Alliierten nur ein sehr behutsamer Gewerkschaftsaufbau und ein föderaler Gewerkschaftsaufbau befürwortet.
00:23:53: 6 Maria Popov: Der Aufbau der Gewerkschaften sollte also langsam und von unten nach oben geschehen. Die Grundlage dafür war im Grunde längst da.
00:24:01: 4 Michael Schneider: Also in der Weimarer Republik und im Kaiserreich ja schon, sind ja zunächst die Berufsverbände, dann die Industrieverbände gebildet worden und die haben sich zu Dachverbänden zusammengeschlossen, also die föderale Struktur war das, was in der deutschen Tradition angelegt war und was sich dann nach 1945 auch durchgesetzt hat.
00:24:20: 3 Maria Popov: Einer, der sich den gewerkschaftlichen Wiederaufbau zum Lebensziel gemacht hat, war Hans Böckler.
00:24:25: 8 Michael Schneider: Er war ein gewerkschaftliches Urgestein. 1875 geboren, ist er schon ganz früh in den Deutschen Metallarbeiterverband und in die SPD eingetreten, 1894. Und hatte dann ab der Zeit nach der Jahrhundertwende zahlreiche Funktionen als Gewerkschaftssekretär in unterschiedlichen Orten. War in der Zeit des Dritten Reiches mehrfach verhaftet und war 1945 ein Mann der ersten Stunde.
00:24:53: 2 *Musik*
00:24:57: 7 Maria Popov: Anlässlich seines 150. Geburtstags im Februar werden wir Hans Böckler noch eine komplette eigene Folge widmen. Heute halten wir jedenfalls fest: Böckler beginnt mit dem Wiederaufbau der Gewerkschaften in der britischen Besatzungszone, wo es auch zum ersten Zusammenschluss der Einzelgewerkschaften kommt. Schließlich wird Hans Böckler zum ersten Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes gewählt, beim Gründungskongress vor 75 Jahren, am 13. Oktober 1949, in München. Und dort klang es so. Wir hören ins Archivradio der ARD, eine Reportage vom 14. Oktober 1949 rein.
00:25:34: 1 Reporter: Erwartungsvolle Stille herrscht im ganzen Saal, so eben haben sich die 16 Vorsitzenden der Industriegewerkschaften und die Mitglieder des Gewerkschaftsrates zu einem Pult begeben, dass vorne unter der Tribüne aufgestellt worden ist. Ein Pult, auf dem die Gründungsurkunde des neuen Deutschen Gewerkschaftsbundes aufgelegt worden ist. Die Anwesenden haben sich alle von ihren Sitzen erhoben. Und als Erster unterzeichnet nun Hans Böckler, der Vorsitzende des Gewerkschaftsrates.
00:26:17: 1 *Musik Gesang*
00:26:30: 8 Reporter: Eigentlich ohne ein besonderes Zeichen, rein aus dem intuitiven Gefühl für die Bedeutung der Stunde, haben die Anwesenden nun plötzlich diese Hymne angestimmt, während nun vorne am Unterschriftspult Unterschrift um Unterschrift geleistet wird. Und Hans Böckler ergreift wieder das Wort.
00:26:56: 3 Hans Böckler: Die deutschen Arbeitnehmer, die haben wieder einen Gewerkschaftsbund. Das heißt, das Instrument, das ihnen die Gewähr gibt, die Zukunft der arbeitenden Menschen zu einer besseren zu gestalten.
00:27:25: 7 *Applaus*
00:27:37: 7 Wir haben unseren Bund, von dem wir wünschen und hoffen nicht nur, von dem wir gewiss sind, dass er täglich an Stärke wachsen wird. Heute stehen die arbeitenden Menschen ohne Rücksicht auf parteipolitische und weltanschauliche Unterschiede in echter Verbundenheit zusammen. Wir haben den ehrlichen Willen diese Gewerkschaft so zu gestalten, dass sie allen Arbeitnehmern künftig eine echte Heimat ist.
00:28:15: 4 Maria Popov: Ein feierlicher Auftakt ist es zum ersten „Parlament der Arbeit“, so haben sie den Gründungskongress des Deutschen Gewerkschaftsbunds genannt, der vom 12. bis zum 14. Oktober 1949 in München stattfindet und so werden auch bis heute die Bundeskongresse des DGB genannt.
00:28:33: 4 Michael Schneider: Das ist ganz groß plakatiert gewesen, Parlament der Arbeit. Ja, 16 zu diesem Zeitpunkt schon bestehende Industriegewerkschaften haben sich zum DGB zusammengeschlossen. Sie haben sich ein Programm, im heutigen Sinne kein Grundsatzprogramm, sondern wirtschaftspolitische Leitsätze gegeben, die da verabschiedet worden sind. Und sie haben darüber beraten, wie denn die Aufgabenteilung zwischen den Industriegewerkschaften und dem Gewerkschaftsbund, dem Dachverband, eigentlich aussehen sollte.
00:29:05: 2 Maria Popov: Fast 500 Delegierte aus verschiedenen Einzelgewerkschaften versammeln sich an diesem Tag 1949 in München. Darunter 14 Frauen. Viele der Delegierten sind über 50 Jahre alt. Sie waren bereits vor 1933 organisiert und verfügten über gewerkschaftspolitische Erfahrungen. Jüngere ArbeitnehmerInnen dagegen kannten den Solidaritätsgedanken der freien deutschen Arbeiterbewegung meist noch gar nicht, da sie ja in Strukturen der NS-Diktatur sozialisiert wurden. So erklärt sich auch die Altersstruktur des Parlaments der Arbeit. Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften repräsentieren zu diesem Zeitpunkt bereits fast fünf Millionen Mitglieder in Westdeutschland. Auf diesem Gründungskongress setzen sich die Delegierten des DGB hohe Ziele.
00:29:53: 3 Michael Schneider: Wenige Wochen zuvor war ja die konstituierende Sitzung des ersten Deutschen Bundestages im September 1949 und wie gesagt, vier Wochen später wird der DGB gegründet und zwar als Parlament der Arbeit, dieser erste Gründungskongress, ein Anspruch sozusagen, eine parlamentarische Parallelstruktur zu schaffen, die den gesellschaftlichen Unterbau für die parlamentarische Demokratie, wie sie im Bundestag verkörpert wird, für die politische Demokratie bilden sollte.
00:30:23: 3 Maria Popov: Nicht mehr und nicht weniger als eine gerechte Gesellschaftsordnung sollte im Parlament der Arbeit begründet werden. Die "Wirtschaftspolitischen Grundsätze des Deutschen Gewerkschaftsbundes", fordern:
00:30:35: 3 Sprecher: Die Mitbestimmung der organisierten Arbeitnehmer in allen personellen, wirtschaftlichen und sozialen Fragen der Wirtschaftsführung und Wirtschaftsgestaltung.
00:30:43: 6 Michael Schneider: Mit anderen Worten Lohnerhöhung, Arbeitszeitverkürzung, das wofür vor allen Dingen die Industriegewerkschaften selber sorgen müssten.
00:30:53: 3 Maria Popov: Zudem forderte das “Parlament der Arbeit”:
00:30:56: 5 Sprecher: Die Überführung der Schlüsselindustrien in Gemeineigentum, insbesondere des Bergbaus, der Eisen- und Stahlindustrie, der Großchemie, der Energiewirtschaft, der wichtigen Verkehrseinrichtungen und der Kreditinstitute.
00:31:11: 2 Maria Popov: Der dritte Programmpunkt war die zentrale volkswirtschaftliche Planung. Man hielt fest:
00:31:15: 9 Sprecher: Eine solche wirtschaftspolitische Willensbildung und Wirtschaftsführung verlangt eine zentrale volkswirtschaftliche Planung, damit nicht private Selbstsucht über die Notwendigkeiten der Gesamtwirtschaft triumphiert.
00:31:27: 7 Maria Popov: Und der vierte Punkt?
00:31:29: 1 Michael Schneider: Das war die Mitbestimmung der organisierten Arbeitnehmer. Und dafür haben sich der DGB und die Gewerkschaften auch wirklich stark gemacht und da haben sie mit der Einführung der Mitbestimmung in der Montanindustrie, der paritätischen Mitbestimmung, ja in der Tat auch einen großen Erfolg erzielt.
00:31:46: 2 *Musik*
00:31:47: 8 Maria Popov: Okay, Montanindustrie, kurz: Damit sind der Bergbau, die Eisenhütten- und Stahlindustrie gemeint. Und das Montan-Mitbestimmungsgesetz, das Michael Schneider gerade angesprochen hat, und das von Hans Böckler mit erkämpft wurde, das regelt seither die paritätische, die gleichberechtigte Mitbestimmung der ArbeitnehmerInnen in den Aufsichtsräten und Vorständen der Unternehmen des Bergbaus und der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie. Dieses Gesetz ist seit Juli 1951 in Kraft und gilt als Meilenstein in der Geschichte der Mitbestimmung. Auch dazu werden wir in einer späteren Folge genauer berichten. Und jetzt nochmal zurück zum Gründungskongress.
00:32:30: 7 Michael Schneider: Das, was bei dieser Gelegenheit auch geklärt worden ist, war die Arbeitsteilung zwischen den souveränen Industriegewerkschaften einerseits und dem Dachverband. Die Industrieverbände sollten dafür zuständig sein, die Tarifpolitik zu betreiben. Auch die Betriebspolitik, also die Fragen der Betriebsräte, der Vertrauensleute und so weiter, das läuft über die Schiene der Industriegewerkschaften. Die gesamtgesellschaftliche Vertretung sollte der Dachverband übernehmen. Das bedeutete die übergeordnete Programmatik für die Gewerkschaftsbewegung insgesamt war Aufgabe des Dachverbandes. Und der DGB sollte die Stimme der Gewerkschaften sein in allen Fragen der Sozial-, Bildungs-, Wirtschaftspolitik. Der DGB sollte der Interessenvertreter der Gewerkschaften nicht nur in Fragen der innerdeutschen Politik sein, sondern auch auf der internationalen Ebene.
00:33:22: 0 Maria Popov: Der DGB handelt also auch politisch, allerdings parteipolitisch unabhängig. Die Frage: Wie politisch wollen, können oder müssen wir eigentlich sein, die musste zu Beginn erst einmal ausgehandelt werden. Dazu nochmal Michael Schneider.
00:33:37: 6 Michael Schneider: Das, was für diese als richtungsübergreifende Einheitsgewerkschaft gegründete DGB-Organisation sich zunächst mal als eine Herausforderung herausstellen sollte, ist die Frage, wie halten wir es eigentlich mit der Parteipolitik? Denn ganz eindeutig waren ja die Sozialdemokraten in der Mehrheit innerhalb der Gewerkschaftsmitgliedschaft, aber auch innerhalb der Führungsgremien der Gewerkschaften. Das hat dazu geführt, dass 1953 bei der Wahl zum Bundestag der DGB eine Parole ausgegeben hat, die hieß „Wählt einen besseren Bundestag“.
00:34:15: 2 Maria Popov: Gemeint war damit: stärkt die SPD.
00:34:17: 7 Michael Schneider: Das fanden die christlich-sozialen Kollegen innerhalb des DGB nicht übermäßig fair und haben deswegen dagegen protestiert, haben da gedroht, sie würden gegebenenfalls wieder eine christliche Gewerkschaftsbewegung stärken. Die DGB-Führung hat daraus gelernt, dass politische Neutralität eben nicht bedeutet, dass man politisch abstinent sein soll, aber dass man nicht parteipolitisch Stellung nehmen darf, weil man sonst die Einheit dieser richtungsübergreifenden Einheitsgewerkschaft gefährden würde.
00:34:51: 1 *Musik*
00:34:54: 0 Maria Popov: Welche auf dem Gründungskongress formulierten Ziele, welche Erfolge für eine soziale Demokratie konnten erzielt werden?
00:35:01: 1 Michael Schneider: Die haben natürlich, wenn wir nach Erfolgen fragen, in der Zeit des Wirtschaftswunders, in den 50er Jahren, in den 60er Jahren enorme Erfolge zu verzeichnen gehabt. Die Lohnsteigerungen lagen zwar in dem durch die Produktivitätssteigerung gezogenen Grenzen, aber sie führten zu einem enormen Wohlstandszuwachs oder Einkommenszuwachs, der umso mehr ins Gewicht fällt, als er ja mit einer Arbeitszeitverkürzung, der Einführung der 40-Stunden-Woche verbunden war. Die Einführung hat sich zwar über Jahre hingezogen, aber der Sockel von 48 Stunden ist dann innerhalb einiger Jahre auf 40 Stunden gebracht worden.
00:35:41: 4 Maria Popov: Arbeitszeit runter und Urlaubszeit rauf, dieses Ziel wurde ab 1957/58 verfolgt.
00:35:48: 5 Michael Schneider: Anfang der 50er Jahre, die Urlaubszeit, wenn wir die da betrachten, dann reden wir von einer Urlaubszeit, wenn es hochkommt, von 14 Tagen, zwei Wochen. Innerhalb von zehn Jahren stieg sie auf drei Wochen, dann auf vier Wochen. Und heute sind wir in vielen, vielen Fällen bei deutlich über vier, fünf und manchmal sechs Wochen. Also der Urlaubsanspruch hat sich deutlich erhöht.
00:36:16: 4 *Musik*
00:36:20: 2 Maria Popov: Und wo steht der DGB eigentlich heute 75 Jahre nach seiner Gründung? Dazu Yasmin Fahimi, die wir bereits eingangs gehört haben. Sie ist seit 2022 die DGB-Vorsitzende, als erste Frau in diesem Amt.
00:36:34: 6 Yasmin Fahimi: Es gibt in Deutschland das Grundverständnis, dass wir eine soziale Marktwirtschaft sind. Das heißt, dass bei uns nicht nur das Kapital regiert, sondern dass wir einen sozial gezähmten Kapitalismus wollen. Und dazu gehört eben, dass die Beschäftigten auf Augenhöhe mit den Arbeitgebern gebracht werden müssen, indem sie das Recht auf Tarifverträge haben, das Recht sich zu organisieren, das Recht zu streiken.
00:37:00: 4 Maria Popov: Das ist ja genau das, was die Teamerinnen, Adriana und Josephine, die wir am Anfang gehört haben, auch den BerufsschülerInnen nahebringen wollten.
00:37:08: 9 Yasmin Fahimi: Und das ist ein ganz wesentlicher Faktor, wenn man eine soziale Marktwirtschaft will. Natürlich gehört da auch noch mehr zu, da gehören auch Sozialversicherungssysteme zu, da gehört Daseinsvorsorge zu, aber das ist ein ganz wichtiges Element. Und leider ist es so, dass wir in Deutschland eine schwindende Tarifbindung haben, weil die Arbeitgeber sich immer mehr verweigern, überhaupt mit uns Abschlüsse zu machen. Und die zweite große Herausforderung, die ich sehe, ist, dass wir eine ganz schwierige gesellschaftspolitische Stimmungslage haben, viel von Hass und Aggression geprägt, viel von Frustration und Sorge auch, die ich natürlich auch in vielen Teilen verstehen kann, aber die im Moment nicht ausgetragen wird in einem Konflikt zwischen, ich sag jetzt mal, oben und unten oder rechts und links, sondern sie wird als Kulturkampf umdefiniert.
00:38:02: 7 Maria Popov: Obwohl wir viel dringender über die sozialen Fragen sprechen müssten, sieht Yasmin Fahimi mit großer Sorge, dass Migration und Religion die öffentlichen Debatten dominieren. Der DGB bezieht dazu eine klare Stellung:
00:38:16: 6 Yasmin Fahimi: Es gibt kein Zaudern gegenüber den Rechtsextremen und Faschisten. Das hat auch mit unserer Geschichte zu tun. Das hat auch damit zu tun, dass wir eben weil wir eine Organisation sind, die nicht in autoritären Systemen denkt, sondern die eben eine selbstorganisierte Macht ist, gerade auch den Rechtsextremen immer ein Dorn im Auge sind und gewesen sind.
00:38:42: 3 Maria Popov: Darum gehört antifaschistisches Engagement in den Gewerkschaften für viele einfach dazu.
00:38:47: 4 Yasmin Fahimi: Für uns selber im Betrieb bedeutet das auch, klare Kante zu zeigen, dass diejenigen, die in Wort, Schrift oder Tat sich gegen unsere Werte stellen, ausgeschlossen werden können von der Mitgliedschaft. Wenn sich jemand klar gegen unsere Werte positioniert, wird mindestens ein Funktionsverbot ausgesprochen. Diese Personen schließen wir aus Gremien aus, sie werden nicht mehr auf die Gewerkschaftslisten für Betriebsratswahlen gesetzt.
00:39:15: 6 Maria Popov: Eine weitere große Herausforderung und auch in der Verantwortung des DGB, sieht Yasmin Fahimi den Einsatz für Geschlechtergerechtigkeit. Die Emanzipation der Frau und die wirtschaftliche Emanzipation gehört für sie zusammen.
00:39:29: 6 Yasmin Fahimi: Deswegen kämpfen wir darum, dass Frauen bessere Arbeitsbedingungen bekommen, dass sie faire Löhne bekommen, dass endlich Schluss ist mit der Teilzeitfalle, dass sie die Möglichkeit bekommen aufzustocken. Aber wir wissen natürlich auch, dass all diese Hindernisse oftmals an Partnerschaften und/oder eben auch Kindern hängen. Das heißt, Ehegattensplitting, das für viele Frauen bedeutet, dass sie auf ihrem Lohnzettel wegen einer sehr schlechten Steuerklasse als nur Dazuverdienerinnen quasi kaum irgendwie was netto übrig haben von ihrem Brutto, schafft ja nicht gerade den Anreiz seine Arbeitszeit aufzustocken. Deswegen muss das abgeschafft werden. Wir wollen das System umgestellt wissen, weg von diesem Ehegattensplitting als Familienförderung hin zu einer echten Kindergrundsicherung, zu einer echten Familienförderung, und zwar unabhängig von dem Lebensmodell der Eltern. Wir brauchen aber natürlich auch eine ganz andere soziale Infrastruktur, ausreichend Kita-Plätze, Ganztagsschulen, die es Frauen eben auch ermöglicht, tatsächlich auch zu verlässlichen Arbeitszeiten überhaupt dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen.
00:40:41: 4 Maria Popov: Und es gibt noch einen weiten Aspekt, der Yasmin Fahimi wichtig ist: die Pflege.
00:40:47: 2 Yasmin Fahimi: Viele Frauen sind quasi in so einer Doppelzange. Erst kümmern sie sich um die Kinder, dann arbeiten sie dazwischen nochmal ein bisschen länger und dann müssen sie wieder aussteigen, weil sie die Eltern pflegen müssen. Das heißt, auch die Pflegeinfrastruktur muss sich ändern.
00:41:00: 5 *Musik*
00:41:05: 0 Maria Popov: Okay, da ist also noch eine Menge zu tun. Aber heute, 75 Jahre nach seiner Gründung, darf man einfach mal feiern, was alles seitdem erreicht wurde, denn ein guter Teil der 1949 vom “Parlament der Arbeit” formulierten Ziele konnte tatsächlich schon umgesetzt werden und wirkt bis heute fort.
00:41:26: 9 Michael Schneider: Das grundsätzliche Bild einer gelungenen sozialen Flankierung der Marktwirtschaft mit einem demokratischen Unterbau, der gesellschaftlich in den Betrieben verankert ist. Ich glaube, das ist eine zentrale Leistung, die man der Gewerkschaftsbewegung gutschreiben kann.
00:41:42: 9 Maria Popov: Und damit die Gewerkschaften den Herausforderungen der Zukunft stark entgegentreten können, ist es wichtig, dass sich junge Menschen wie Josephine und Adriana dafür einsetzen, die Ideen von Demokratie, Solidarität und Mitbestimmung weiterzutragen. Der DGB, die Gründung der Einheitsgewerkschaft, das ist auf jeden Fall eine Erfolgsgeschichte, von der wir alle profitieren.
00:42:07: 5 *Musik*
00:42:11: 8 Maria Popov: Das war “Geschichte wird gemacht”. Die nächste Folge erscheint in sechs Wochen. Abonniert den Podcast, um diese nicht zu verpassen. Wenn euch die Folge gefallen hat, lasst uns gerne eine Bewertung da oder empfehlt uns weiter. “Geschichte wird gemacht” ist eine Produktion von Hauseins im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung. Ich bin eure Host: Maria Popov. Redaktion: Stefanie Groth und Katharina Alexander für Hauseins; Dieter Pougin für die Hans Böckler Stiftung. Produktionsleitung: Melanie Geigenberger und Stefanie Groth. Schnitt und Sounddesign: Joscha Grunewald. Tschüss! Und bis zum nächsten Mal.
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