Streiken für die Gesundheit – Warum du auch bezahlt wirst, wenn du krank bist

Shownotes

Für viele Menschen ist es heute selbstverständlich, dass sie auch dann ihren Lohn bekommen, wenn sie sich krankmelden. Allerdings war das nicht immer so. Im längsten Streik der Geschichte der Bundesrepublik kämpften Metallarbeiter in Schleswig-Holstein für die Gleichstellung von Arbeiter*innen und Angestellten, für Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und Urlaubsgeld.

In dieser Folge werfen wir mit dem Historiker Michael Schneider einen Blick zurück ins Jahr 1956 und schauen uns an, wie der Streikführer Herbert Sührig von der IG Metall mit Kinoaufführungen, Kaffeekränzchen und Kabarett für gute Stimmung unter den Streikenden sorgte. Außerdem macht Thorsten Schulten von der Hans-Böckler-Stiftung deutlich, warum Tarifverträge zwar ein wichtiges Werkzeug sind, um gesellschaftliche Verbesserungen anzuschieben, es aber auch politische Veränderungen braucht.

Und wie ist die Situation heute? Darüber sprechen wir mit Annabell, die gerade ihre Ausbildung zur Ergotherapeutin macht und nebenbei als Zumba-Lehrerin arbeitet. Dort wird sie auf Rechnung bezahlt und bekommt nur Geld für die Kurse, die wirklich stattfinden. Das setzt sie sehr unter Druck. Und Eike Windscheid-Profeta aus der Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung erklärt, warum sich so viele Menschen krank zu Arbeit schleppen, selbst wenn sie keine finanziellen Konsequenzen befürchten müssen.

Ihr kriegt nicht genug von Podcasts? Dann hört doch mal in „Systemrelevant“, den Wirtschaftspodcast der Hans-Böckler-Stiftung rein!

„Geschichte wird gemacht” ist eine Produktion von Hauseins im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung.

Host: Maria Popov

Redaktion: Katharina Alexander für Hauseins und Dieter Pougin für die Hans Böckler Stiftung

Produktionsleitung: Stefanie Groth

Schnitt und Sounddesign: Joscha Grunewald

**Links und Hintergründe **

Weiterführende Literatur

Transkript anzeigen

00:00:00: 0 *Protestrufe*

00:00:08: 8 *Musik*

00:00:24: 1 Maria Popov: Hey, ich bin Maria Popov. Und ihr hört „Geschichte wird gemacht“.

00:00:28: 3 *Husten, Niesen, Nasenputzen*

00:00:30: 8 Im Moment sind viele Leute in meinem Umfeld krank. Und mich hat’s neulich auch erwischt: Ich hatte Corona. Das ist für mich nicht nur nervig, weil natürlich, niemand ist gerne krank, sondern auch, weil ich selbstständig bin. Das heißt, wenn ich krank bin und deshalb Aufträge nicht annehmen kann, verdiene ich natürlich auch kein Geld. Für die meisten ArbeitnehmerInnen ist das zum Glück anders: Wenn die mal krank sind, können sie sich krankmelden und bekommen dann trotzdem am Monatsende ihr volles Gehalt, und zwar für bis zu sechs Wochen!

00:00:59: 7 *Musik*

00:01:03: 7 Maria Popov: Aber nicht für alle ist es eine einfache Sache, sich mal krankzumelden. So geht es zum Beispiel Annabell. Sie ist 20 und macht gerade eine Ausbildung zur Ergotherapeutin. Weil sie eine schulische Ausbildung macht, verdient sie damit gerade kein Geld und arbeitet nebenher noch als Zumba-Lehrerin in einem Sportverein. Dort ist sie aber nicht fest angestellt, sondern arbeitet auf Rechnung, bekommt also nur Geld für die Kurse, die auch wirklich stattfinden. Und wenn sie krank ist, setzt sie das ziemlich unter Druck.

00:01:31: 5 Annabell: Ich habe auch schon mal gearbeitet, als ich eigentlich nicht hätte arbeiten sollen, weil ich eben genau das Geld gebraucht habe, weil das halt ansonsten aktuell super viel Stress bei mir auslöst, weil ich nun mal nicht wirklich viel andere Einkommensquellen momentan habe.

00:01:47: 5 Maria Popov: Generell ist krank zu werden etwas, das Annabell große Probleme bereitet: Zum einen, weil sie Angst hat, das Geld könnte dann nicht reichen, zum anderen, weil sie in ihrer Ausbildung nicht zu viele Fehltage haben darf.

00:01:59: 4 Annabell: Also, wenn ich mich auch jetzt aktuell in meiner aktuellen Ausbildung krankmelde, ist das leider auch mit sehr viel Druck verbunden, einfach weil davon unsere Examenszulassung abhängt. Genau, aber letztendlich ist es egal, ob ich irgendwie eine Entschuldigung vom Arzt habe oder nicht, weil die Fehlzeiten, die ich habe, lassen sich halt nicht löschen. Abgesehen jetzt von dem Praxisteil, in dem ich mich momentan befinde, da kann ich Überstunden machen oder halt noch mal was nacharbeiten und damit so gesehen meine Fehlzeiten ausgleichen.

00:02:29: 9 Maria Popov: Gerade in Zeiten, in denen viele Leute flach liegen, versucht Annabell besonders vorsichtig zu sein, um sich nicht anzustecken. Für die Zukunft wünscht sie sich einen Job, bei dem das entspannter abläuft.

00:02:40: 6 Annabell: Wenn ich jetzt einen Job hätte, in dem ich weiterbezahlt werden würde, wenn ich krank werden würde, würde sich mein Leben auf jeden Fall um einiges entspannen, wenn ich mir da eben keinen Kopf drum machen müsste.

00:02:51: 4 *Musik*

00:02:52: 7 Maria Popov: Sich keinen Kopf machen müssen, sondern einfach in Ruhe gesund werden können, das wünscht sich nicht nur Annabell. Wer heute eine Festanstellung hat, also sozialversicherungspflichtig beschäftigt ist, für denjenigen gehört die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wahrscheinlich ganz normal dazu. Allerdings war das nicht immer so. Gewerkschaften haben lange dafür gekämpft, und zwar im längsten Streik der deutschen Geschichte.

00:03:18: 4 *Möwenrufe*

00:03:20: 5 Maria Popov: Es ist der 25. Oktober 1956. Seit gestern streiken über 20.000 Metallarbeiter in Schleswig-Holstein. So auch auf der Werft der Howaldtswerke in Kiel. Hier werden normalerweise Schiffe gebaut, aber heute ist es ganz still auf dem Gelände. Denn die Menschen, die hier normalerweise schuften, wollen die Arbeitgeber dazu bringen, ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern. Sie fordern: Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, mehr Urlaubstage und Urlaubsgeld. Ein Reporter vom NDR ist damals vor Ort und spricht mit einem der Streikposten.

00:03:56: 0 Interviewer: Und die Stimmung ist bei Ihnen ja sehr gut, wie ich feststellte, als ich herkam, nicht?

00:03:59: 1 Arbeiter: Unsere Stimmung ist blendend, blendend ist sie!

00:04:01: 3 Interviewer: Wie lang glauben Sie denn, diesen Streik durchhalten zu können?

00:04:04: 0 Arbeiter: Oh, wir glauben, hoffen, dass der Unternehmer bald nachgibt, denn wir sind gut versorgt. Unsere Gewerkschaft hat für uns vorgesorgt.

00:04:10: 9 Maria Popov: So schnell, wie der Streikposten damals hoffte, werden die Arbeitergeber aber nicht nachgeben. Stattdessen beginnt in diesen Tagen der bis heute längste Streik in der Geschichte der Bundesrepublik. Über 16 Wochen werden die Metallarbeiter in Schleswig-Holstein für ihre Rechte kämpfen.

00:04:27: 7 *Musik*

00:04:31: 8 Maria Popov: In den1950er Jahren boomt die Wirtschaft in Westdeutschland. Das Wirtschaftswunder sorgt für gute Stimmung und Konsumlaune in der deutschen Bevölkerung. Viele Menschen wollen die Schatten des Nationalsozialismus und die katastrophalen Folgen des Zweiten Weltkriegs einfach nur abschütteln und sehnen sich nach einem ruhigen, beständigen Leben, in dem Papa gerne arbeiten geht und Mama zu Hause bleibt, um sich um den Haushalt und Kinder zu kümmern. Seit ihren Anfängen kämpfen Gewerkschaften für sozial gerechte Arbeits- und Lebensbedingungen für ArbeitnehmerInnen. Trotz des Wirtschaftswunders werden ArbeiterInnen im Krankheitsfall gegenüber Angestellten immer noch wie Menschen zweiter Klasse behandelt. Das wollen die Gewerkschaften ändern.

00:05:17: 3 Michael Schneider: Die Ungleichbehandlung von Angestellten und Arbeitern in der Urlaubsregelung und in der Frage der Bezahlung von Krankentagen stammt aus dem Jahr 1861. Da ist festgelegt worden, dass Handlungsgehilfen, also kaufmännische Angestellte, einen Anspruch auf Lohnfortzahlung haben und die Arbeiter wurden dabei vergessen, die Arbeiterinnen im Übrigen auch.

00:05:41: 7 Maria Popov: Das ist Michael Schneider. Er ist Historiker und forscht zur Geschichte der Gewerkschaften.

00:05:46: 9 Michael Schneider: Die Spaltung der Gesellschaft Mitte des 19. Jahrhunderts im Zuge der Industrialisierung war ja offenkundig. Die Arbeitsbedingungen für Arbeiter und Arbeiterinnen waren ja katastrophal. Dreck, Lärm, Gefährlichkeit der Arbeit. All das wurde ja hingenommen zugunsten einer steigenden Produktivität und natürlich zugunsten von steigenden Gewinnen.

00:06:08: 2 Maria Popov: Wer dagegen angestellt war, konnte mit besseren Arbeitsbedingungen rechnen.

00:06:12: 6 Michael Schneider: Die Angestellten galten als dem Arbeitgeber näher, wurden dementsprechend auch mit einer besonderen Fürsorge betrachtet, und zu dieser Fürsorge gehörte eben auch, dass sie ja nicht nach den geleisteten Stunden, sondern nach den monatlichen Arbeitsleistungen bezahlt wurden, sodass sie ein monatliches Gehalt bekamen, während die Arbeiter eben nur die Stunden bezahlt bekamen, die sie wirklich gearbeitet hatten.

00:06:35: 0 Maria Popov: Ganz schön unfair. Und noch in einem weiteren Punkt werden Angestellte besser behandelt: Wenn sie krank sind, bekommen sie 100 Prozent ihres Gehalts ausgezahlt. Bei den ArbeiterInnen sieht das anders aus.

00:06:46: 5 Michael Schneider: Das war die Situation Mitte des 19. Jahrhunderts, und an der hat sich im Laufe von 100 Jahren so gut wie nichts geändert. Also diejenigen, die höher gestellt waren aus der Arbeiterschaft und die als Angestellte betrachtet wurden, die haben auch die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall erreicht auf die Art und Weise, aber die Arbeiter und Arbeiterinnen gingen leer aus, bis auf die Unterstützungsleistung von der Krankenkasse.

00:07:09: 6 Maria Popov: Die gesetzlichen Krankenkassen gibt es nämlich schon seit Ende des 19. Jahrhunderts. Wer in der Industrie, im Handwerk oder im Gewerbe arbeitet, ist versicherungspflichtig und bekommt im Krankheitsfall ein kleines Krankengeld. Das ist aber in der Regel deutlich niedriger als das, was man normalerweise verdient. Jetzt, in der Mitte der 1950er Jahre wollen die Gewerkschaften diese Ungerechtigkeit endlich angehen.

00:07:34: 2 Michael Schneider: Die Wirtschaft florierte, das galt im Übrigen eben auch an der Küste, wo die Werften sich über einen Mangel an Aufträgen überhaupt nicht zu beklagen hatten. Mit anderen Worten, sie waren ausgebucht, die wirtschaftliche Situation war sehr günstig. Vor diesem Hintergrund erschien es sinnvoll, diese Ungerechtigkeit in der Behandlung von Arbeitern und Arbeiterinnen einerseits und Angestellten doch auf die Tagesordnung zu bringen.

00:08:00: 1 Maria Popov: Und das macht der DGB, der Deutsche Gewerkschaftsbund, 1955 auch. Er verschickt einen Gesetzesentwurf an die Bundestagsparteien und fordert: Lasst uns Angestellte und ArbeiterInnen endlich mal gleichbehandeln. Der Gesetzesentwurf wird von der SPD in den Bundestag eingebracht, scheitert aber, weil die Arbeitgeber Alarm schlagen.

00:08:21: 6 Michael Schneider: Daraufhin haben die Gewerkschaften gesagt, dann versuchen wir sozusagen über Bande zu spielen. Wir werden versuchen, das in die Rahmentarifverträge reinzubringen und wenn es da drin ist, hat man ja schon einen großen Schritt in die richtige Richtung getan. Dann könnte man natürlich einen erneuten Druck auf eine gesetzliche Absicherung des schon Erreichten vielleicht erreichen.

00:08:43: 3 *Musik*

00:08:46: 8 Maria Popov: Die Rahmentarifverträge sind für die Gewerkschaften eine Möglichkeit, sozialpolitische Forderungen zumindest für einen Teil der Gesellschaft durchzusetzen. Es arbeiten damals nämlich deutlich mehr Menschen als heute in tarifgebundenen Arbeitsverhältnissen. Ein Rahmentarifvertrag regelt die allgemeinen Bedingungen, unter denen gearbeitet wird, wie etwa die Dauer des Urlaubs, die Arbeits- und Pausenzeiten. Übrigens gilt in Deutschland auch damals schon die Tarifautonomie, über die wir in unserer ersten Folge über das Tarifvertragsgesetz von 1949 bereits gesprochen haben. Das heißt, dass die Gewerkschaften mit den Arbeitgebern Tarifverträge aushandeln dürfen, ohne dass der Staat eingreifen darf. Meistens sind diese dadurch weitreichender als der gesetzliche Rahmen und somit besser für die ArbeitnehmerInnen. Die Gewerkschaften – im Fall der Werftarbeiter ist das die IG Metall – wollen also in einem Rahmentarifvertrag festschreiben, dass ArbeiterInnen genauso behandelt werden wie Angestellte. Das heißt in diesem Fall: Wer bis zu sechs Wochen im Jahr krank ist, soll in dieser Zeit seinen normalen Lohn bekommen. Außerdem soll es mehr Urlaubstage und Urlaubsgeld geben. Aber um das gegenüber den Unternehmern durchzusetzen, brauchen sie die Unterstützung der ArbeiterInnen.

00:10:06: 6 Michael Schneider: Es ist Stimmung gemacht worden, Die IG Metall hat sich die Unterstützung der Arbeiter und Arbeiterinnen für diese Frage geholt. Und ist dann auf in die Tarifverhandlungen eben eingestiegen mit den Arbeitgebern. Die Arbeitgeber waren auf der anderen Seite angeführt von Adolf Westphal, das war der Chef der Howaldtswerke, der von vornherein darauf hingewiesen hat, in dieser Frage gibt es überhaupt nichts zu verhandeln. Die Werften könnten diese Belastung nicht tragen, die deutsche Wirtschaft insgesamt könnte diese Belastung nicht tragen. Die Fronten waren von vornherein sehr verhärtet.

00:10:38: 3 Maria Popov: Es gibt damals einen Mann, der den Arbeitgebern besonders auf die Nerven geht. Er heißt Herbert Sührig.

00:10:45: 4 Michael Schneider: Herbert Sührig war der Vorsitzende des IG Metall Bezirks Nordmark seit den 50er Jahren. Er war, ich würde sagen, ein Gewerkschafter von altem Schrot und Korn.

00:10:57: 3 Maria Popov: Herbert Sührig wird 1900 geboren und macht dann erst mal eine Ausbildung zum Ziseleur, das ist eine bestimmte Fachrichtung in der Metallarbeit. Wegen des ersten Weltkriegs muss er die Ausbildung abbrechen, nach dem Krieg tritt er dann in den deutschen Metallarbeiterverband und später in die SPD ein.

00:11:14: 5 Michael Schneider: 1933 ist er, wie alle anderen Gewerkschafter auch, seines Amtes enthoben worden, er war dann im Widerstand immer wieder mal aktiv, ist mehrmals zwischen 33 und 45 verhaftet worden, angeklagt worden wegen Vorbereitung zum Hochverrat.

00:11:30: 6 Maria Popov: Aber Herbert Sührig hat Glück und überlebt den Nationalsozialismus. Nach dem Krieg wird er wieder als SPD-Politiker aktiv.

00:11:38: 8 Michael Schneider: Und in den 35 äh in den 50er Jahren ist er dann Bezirksleiter der IG Metall im Bezirk Nordmark, also im Norden Deutschlands geworden.

00:11:45: 2 Maria Popov: Damit spielt Herbert Sührig eine die zentrale Rolle im Streik der Metallarbeiter, auch wenn er den natürlich nicht alleine organisiert hat.

00:11:52: 4 Michael Schneider: Neben ihm waren prominente Wegbegleiter und ja Wortführer dieser Streikaktion Julius Bredenbeck, ebenfalls ein Sozialdemokrat und ein IG Metaller und vor allen Dingen Hein Wadle, der Betriebsrat der Howaldtswerke.

00:12:09: 2 Maria Popov: Im Sommer 1956 setzen sich also die Gewerkschafter und die Arbeitgeber zusammen, um über eine Änderung des Rahmentarifvertrags zu verhandeln.

00:12:18: 5 Michael Schneider: Aber das Arbeitgeberangebot war so mager, dass die IG Metall, die Verhandlungskommission gut zwei Monate später das Angebot der Arbeitgeber als unzureichend verwarf und sich entschlossen hat, dass der Tarifkommission vorzulegen.

00:12:35: 1 Maria Popov: Die Tarifkommission, das ist ein gewähltes Gremium, das die Interessen der ArbeitnehmerInnen in Tarifverhandlungen gegenüber den Arbeitgebern vertritt.

00:12:44: 1 Michael Schneider: Die Tarifkommission hat gesagt, da drüber braucht man gar nicht weiter zu reden, und sie haben im Oktober eine Urabstimmung durchgeführt. Dabei haben sie 70 Prozent Zustimmung erhalten. Das war das Quorum deutlich erreicht, das nötig war, einen Arbeitskampf einzuleiten.

00:13:00: 4 Maria Popov: Kurz gesagt: Ab jetzt wird gestreikt! So klingt das in einer Archivaufnahme des WDRs.

00:13:06: 1 O-Ton Nachrichten: In ganz Schleswig-Holstein, von Lauenburg bis Grusau, ob in Flensburg, Neu-Münster, Kiel oder Lübeck, in allen Städten, überall wo die Streikleitung der IG-Metall den Streik beschlossen hat, folgen die Arbeiter dem Ruf ihrer Gewerkschaft.

00:13:17: 6 *Musik*

00:13:21: 5 Maria Popov: Um die Streikenden bei Laune zu halten, überlegen sich Herbert Sührig und die anderen Streikführer etwas Besonderes. Denn die ArbeiterInnen bekommen zwar von der IG Metall ein Streikgeld gezahlt, das liegt aber unter den normalen Einnahmen, die sie sonst haben. Und sie werden auch vom DGB und seinen Mitgliedsgewerkschaften unterstützt durch Lebensmittelpakete und Geldzuwendungen. Aber sie brauchen zudem eine andere Form der Unterstützung.

00:13:45: 2 Michael Schneider: Es war eine karge Zeit für die Betroffenen, die da streikten, und dementsprechend kam es darauf an, ja ich würde mal sagen, die Psyche zu pflegen, die Leute bei der Stange zu halten. Und da hilft es ja wenig, wenn man davon ausgeht, man kann die Streikenden bei der Stange halten, sondern man braucht die ganzen Familien dazu. Es hilft ja nix, wenn die Ehefrau ihrem Mann sagt, nun ist aber gut. Und der Sührig brachte es im Übrigen noch auf die Formel: außerdem stehe hier nicht so dumm in der Küche rum. Das traditionelle Rollenbild hatte ja in den 50er Jahren ganz offensichtlich die Vorstellung, die Frau ist in der Küche, der Mann geht arbeiten und wenn der zu Hause ist, hat er eigentlich nix zu tun und nun gut, er stört recht eigentlich den alltäglichen Ablauf im Haushalt.

00:14:30: 0 Maria Popov: Damit die Stimmung zu Hause nicht kippt, gibt es eine Menge Freizeitangebote für die Streikenden und ihre Familien.

00:14:37: 3 Michael Schneider: Für die Männer, die ja auch unter der Situation gelitten haben, und für die ganze Familie wurden Kinoabende veranstaltet. Es wurden politische Kabaretts eingeladen nach Kiel, nach Lübeck und so weiter. In die Gegenden, in denen es kein Kino gab, wurden Kinowagen geschickt, um Lichtspielaufführungen mit unterhaltsamen Filmen vorzuführen. Das entspannte, sorgte dafür, dass man am Tag was zu tun hatte und trug insgesamt zu einem, ja, zu einem etwas entspannteren Klima bei. Für die Ehefrauen wurden Kaffeekränzchen organisiert, zu denen sie von der IG Metall eingeladen worden sind. Da gab es Kaffee und Kuchen, die Frauen konnten sich austauschen, konnten natürlich durch die Begrüßungsreden zur Solidarität aufgefordert werden, und auch für die Kinder gab es Kasperletheater, es gab Gutscheine für die Kirmes, für den Jahrmarkt, auf dass sie ja in dieser Zeit sozusagen auf Freizeitangebote nicht verzichten mussten, weil das Geld einfach nicht da war. Mit anderen Worten, durch diese flankierenden Maßnahmen wurde die Streikbereitschaft deutlich gestärkt.

00:15:44: 4 Maria Popov: Gleichzeitig ist natürlich auch den Familien der Streikenden bewusst: Das, wofür hier gekämpft wird, ist wichtig. Das hört man hier zum Beispiel in einem NDR-Interview aus den ersten Tagen des Streiks.

00:15:55: 9 O-Ton Interviewer: Frau Knust, Sie haben gerade jetzt mal Ihren Mann zu Hause, nicht?

00:15:59: 1 Frau Knust: Ja.

00:15:59: 1 Interviewer: Was halten Sie nun von dem Streik?

00:16:00: 8 Frau Knust: Nech, also wir haben uns ... wir haben das lange genug vorher gewusst und wir haben uns auch drauf eingestellt, nicht?

00:16:06: 3 Interviewer: Sie haben gespart, ein bisschen?

00:16:07: 7 Frau Knust: Ja, wir haben gespart ein bisschen und wir haben uns unsere Kohlen vorher eingelagert und unsere Kartoffeln eingelagert, denn das ist ja schließlich das Wichtigste.

00:16:16: 3 Interviewer: Ich hörte vorher am Tor der Howaldts-Werke, dass Sie ja bisher eigentlich ganz gut verdient haben, nicht?

00:16:21: 5 Frau Knust: Ja, unser Vater hat sehr gut verdient.

00:16:25: 0 Interviewer: Warum streiken Sie dann überhaupt?

00:16:26: 5 Frau Knust: Ja, das ist nur dass, wenn ja nun mal die Krankheit kommt, was ist dann? Dann ist die Familie aufgeschmissen.

00:16:34: 2 Interviewer: Ja und es geht ja in diesem Fall im Wesentlichen um das Krankheitsgeld.

00:16:37: 2 Frau Knust: Ja, hauptsächlich um das Krankheitsgeld und ja, auch etwas mit um das Urlaubsgeld, denn das ist auch sehr wichtig. Denn wir sind im vorigen Jahr, bin ich mit meinem Mann in den Urlaub gefahren, das ist uns von den Howaldts-Werken ja eingerichtet worden. Wir konnten nach Niedersfels fahren, aber, ja auch nur unter der einen Bedingung, wir haben gespart, wir haben jahrelang drauf sparen müssen.

00:16:59: 4 Maria Popov: Sich richtig erholen können, wenn man krank ist, ohne Angst davor, was das finanziell bedeutet und ab und zu in den Urlaub fahren können. Aus heutiger Perspektive scheinen die Forderungen der Gewerkschaften fast schon banal, aber damals war das ein großes Ding. Um ordentlich Druck auf die Arbeitgeber aufbauen zu können, ist es wichtig, dass möglichst viele Menschen sich am Streik beteiligen. Wer da nicht mitmachen will, dem wird das Leben schwergemacht.

00:17:24: 9 Michael Schneider: Im Übrigen gab es natürlich auch eine Auseinandersetzung um Streikbrecher, die gab es ja auch und es gehört vielleicht zu den Kapiteln, bei denen wir heute zumindest ein kleines bisschen kritisch drauf schauen, vor allen Dingen, wenn man es vor dem Hintergrund heutiger Anprangerungen in den sozialen Medien schaut. Bei Veranstaltungen der IG Metall wurden die Namen von Streikbrechern verlesen und mit Buhrufen und mit Pfiffen quittiert. Also die wurden richtig an den Pranger gestellt.

00:17:56: 7 Maria Popov: Diesen harten Umgang mit den Streikbrechern finden die Arbeitgeber natürlich gar nicht in Ordnung und schalten die Polizei ein.

00:18:03: 4 Michael Schneider: Und zwar sollte der Polizei klargemacht werden: Streikbrecher sind keine Straftäter, sondern diejenigen, die sie daran hindern, die Arbeit aufzunehmen, und zwar durch körperliche Gewalt, das sind die Straftäter. Also schaut genau hin. Wird ein Streikbrecher, der in den Betrieb will von den Streikposten angerempelt, wird er beschimpft, was passiert da eigentlich? Das gipfelte in dem Vorwurf, den der Arbeitgeberverband in Schleswig-Holstein erhoben hat, der Streik wäre schon längst zu Ende, wenn nicht der Terror der Streikposten die Arbeitswilligen daran hinderte, zur Arbeit zu gehen. Dagegen hat Herbert Sührig geklagt, und er hat Recht bekommen. Die Arbeitgeber beziehungsweise der Arbeitgeberverband ist zu einer Strafe von 20.000 D-Mark verurteilt worden und musste diese Behauptung fürdahin unterlassen.

00:19:00: 3 Maria Popov: Gleichzeitig sind die Arbeitgeber aber auch nicht gerade hilflos. Sie werden von Verbänden unterstützt und andere Unternehmen helfen ihnen, das durch den Streik verlorene Geld auszugleichen. In den Verhandlungen bleiben sie weiterhin hart.

00:19:13: 7 Michael Schneider: Die Arbeitgeber legen ein Angebot vor, das so minimal ist, trotz des laufenden Arbeitskampfes, dass sie bei den beiden Forderungen, nämlich Lohnausgleich und Urlaubsgeld, überhaupt kein Entgegenkommen zeigen, und dementsprechend die Gewerkschaften den Streik erst mal weiter ausweiten. Also am Anfang waren es 15 Betriebe mit 20.000 Betroffenen, Ende November 24 Betriebe mit über 31.000 Betroffenen.

00:19:46: 7 Maria Popov: Und dann eskaliert die Situation so richtig.

00:19:50: 3 Michael Schneider: Der Streik wird weiter ausgeweitet, die Arbeitgeber machen ein so minimales Angebot, die dass die Gewerkschaften, die IG Metaller davon ausgehen, das können sie in dieser Form mit den Arbeitgebern nicht weiter aushandeln.

00:20:02: 2 Maria Popov: Eine Schlichtung wird notwendig, wenn die Tarifverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern festgefahren sind. Die Schlichtungskommission besteht aus Gewerkschafts- und ArbeitgebervertreterInnen und zwei neutralen Vorsitzenden, je einem pro Konfliktseite.

00:20:17: 9 Michael Schneider: Diese arbeitet ein Angebot aus, das aber von den Gewerkschaften abgelehnt wird, weil es viel zu nah an dem Arbeitgebervorschlag, dem Arbeitgeberangebot gelegen hat. Daraufhin schaltet sich der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Kai Uwe von Hassel, CDU, ein und versucht in sechs Verhandlungsrunden, die beiden näher aneinander zu führen.

00:20:40: 2 Maria Popov: Aber der Vorschlag des Ministerpräsidenten ist wieder viel zu nah an den Forderungen der Unternehmen. Darum lehnt die IG Metall ihn ab.

00:20:47: 7 Michael Schneider: Die IG Metall ruft daraufhin zu einer zweiten Urabstimmung auf. Die erste Urabstimmung war die über den Streitbeginn, die zweite, da ging es jetzt da drum, sollen wir es annehmen, hören wir auf zu streiken oder sollen wir das nicht tun?

00:21:01: 2 Maria Popov: Es ist inzwischen Anfang Januar 1957, der Streik dauert bereits über 70 Tage. Trotzdem sagen die Mitglieder der IG Metall: Das Angebot reicht uns nicht.

00:21:12: 3 Michael Schneider: Der Streik wird also weiter ausgedehnt, es entsteht allerdings zu dieser Zeit eine öffentliche Diskussion darüber, ob dies nicht eine Ausnutzung des Streikrechts sei und ob nicht der Staat in die Tarifautonomie regelnd eingreifen müsse, um solche Streikexzesse zu verhindern. Glücklicherweise, würde ich sagen, hält sich die Politik da raus.

00:21:32: 0 Maria Popov: Die Tarifautonomie bleibt also gewahrt.

00:21:34: 8 Michael Schneider: Aber prominente Politiker beteiligen sich durchaus an den Schlichtungsverfahren. So übernimmt im Januar 1957 Bundeskanzler Konrad Adenauer, ebenfalls CDU, die Schirmherrschaft für die nächste Schlichtungsverhandlung.

00:21:49: 9 Maria Popov: Die Anliegen der Streikenden werden also von ganz oben wahrgenommen. Allerdings darf man sich das nicht so vorstellen, dass Konrad Adenauer sich mit den Streikenden an einen Tisch gesetzt hat. Seine Schirmherrschaft hatte eher einen symbolischen Charakter, um zu zeigen: Hey, die Politik nimmt euren Streik ernst. Trotzdem geht es noch eine Weile zwischen den Arbeitgebern und den Streikenden hin und her. Die Stimmung auch unter den Streikenden ist langsam ziemlich aufgeladen, sie haben genug von den halbgaren Angeboten der Arbeitgeber.

00:22:19: 5 Michael Schneider: Es wurde weiterverhandelt und dann in einer erneuten Schlichtungsverhandlung am 9. Februar in Kiel kam es dann zu einem Einigungsvorschlag, der einstimmig von Arbeitgebern und Gewerkschaftsvertretern angenommen wurde. Da drin wurde ein längerer Urlaub, eine verbesserte Urlaubsvergütung vereinbart und dann die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall in Form eines Zuschusses durchgesetzt. Und zwar sollten die Krankenkassen ihr Krankengeld bezahlen, und die Arbeitgeber sollten dann den Zuschuss so dazugeben, dass man auf 100 Prozent des Lohnniveaus kommt.

00:22:54: 6 Maria Popov: Herbert Sührig sagte damals in einem Interview mit dem NDR:

00:22:57: 6 Herbert Sührig: Wie Sie wissen, haben die streikenden Metallarbeiter das Verhandlungsergebnis, das am 25. Januar 1957 in Bonn zwischen den Tarifparteien erzielt worden war, mit großer Mehrheit abgelehnt. Sie haben es vor allem deshalb abgelehnt, weil sie die Lösung der Frage des Lohnausgleichs im Krankheitsfall als unbefriedigend empfanden. Es ist nun der IG Metall in den jetzigen Verhandlungen gelungen, eine erhebliche Verbesserung zu erzielen. Denn auch diese Vereinbarung wird natürlich unserer Satzung und unseren Gepflogenheiten entsprechend den Streikenden in einer neuen Urabstimmung vorgelegt werden.

00:23:42: 9 Maria Popov: Die Streikenden sind bei dieser Urabstimmung allerdings nicht gerade begeistert von dem neuen Angebot. 60 Prozent stimmen dagegen. Um das Angebot aber abzulehnen, hätte es eine Dreiviertel-Mehrheit gebraucht. Weil die nicht erreicht wurde, nimmt die IG Metall den Vorschlag an.

00:23:58: 9 *Musik*

00:24:02: 3 Trotzdem bringt die Einigung des Streiks einiges ins Rollen. Noch im selben Jahr verabschiedet der Bundestag ein Gesetz, dass für alle ArbeiterInnen – auch für diejenigen, die nicht nach Tarifvertrag entlohnt wurden – die Lohnfortzahlung bei Krankheit sichert. Allerdings greift die damals erst ab dem dritten Tag, den man krankgemeldet ist.

00:24:20: 8 Michael Schneider: Die faktische Gleichstellung von Arbeitern und Arbeiterinnen sowie Angestellten in Bezug auf die Entgeltzahlung im Krankheitsfall, die ist dann erst 1969 gesetzlich festgeschrieben worden.

00:24:32: 7 Maria Popov: Das Gesetz tritt am 1. Januar 1970 in Kraft. Ab diesem Tag bekommen ArbeiterInnen und Angestellte ab dem ersten Tag, an dem sie krank sind, ihren kompletten Lohn ausgezahlt.

00:24:43: 4 *Musik*

00:24:45: 4 Maria Popov: Nach dem längsten Streik der deutschen Geschichte dauert es also noch 13 Jahre, bis ArbeiterInnen und Angestellte wirklich gleichberechtigt sind.

00:24:53: 3 Michael Schneider: Aber 1996 wurde dieses Gesetz durch die CDU- und FDP-Regierung geändert, und zwar wurde der Anspruch von 100 Prozent auf 80 Prozent des Nettolohnes gesenkt mit Rücksicht darauf, dass also die Arbeitgeber, die Wirtschaft nicht zu sehr belastet werden sollte.

00:25:16: 7 Maria Popov: Moment mal: Nachdem die Metallarbeiter so lange dafür gekämpft hatten, nachdem politisch so lange darum gerungen wurde, nachdem das Gesetz schon 26 Jahre lang in Kraft war, wird es wieder abgeschwächt?

00:25:29: 5 Thorsten Schulten: Es gab Zehntausende von Beschäftigten, die, ja manche sagen so teilweise in spontan sogenannten wilden Streiks übergegangen sind und gegen diese Gesetzesänderung protestiert haben.

00:25:41: 6 Maria Popov: Das ist Thorsten Schulten. Er leitet das Tarifarchiv der Hans-Böckler-Stiftung und weiß aus seiner Arbeit, wie wirkungsmächtig Tarifverträge sein können.

00:25:49: 8 Thorsten Schulten: Es geht darum, dass eben Arbeitgeber auf der einen Seite und Beschäftigte, vertreten durch ihre Gewerkschaften, die Bedingungen, unter denen diese Beschäftigten arbeiten, regulieren in Form von Tarifverträgen. Das also nicht dem Staat überlassen, sondern sozusagen in autonomen Verhandlungen machen. Und das zweite gewichtige Moment ist, dass sie es eben kollektiv machen, dass nicht der einzelne Arbeitnehmer mit dem Arbeitgeber verhandelt, weil er da in der Regel in der deutlich schwächeren Verhandlungsposition ist.

00:26:22: 7 Maria Popov: Als nun also 1996 Helmut Kohl und seine Regierung sagen: Schluss mit vollem Lohn für Krankgeschriebene, ab jetzt gibt es nur noch 80 Prozent, da berufen sich die Gewerkschaften auf dieses wichtige Werkzeug: die Tarifverträge.

00:26:38: 0 Thorsten Schulten: Und es ist dann den Gewerkschaften innerhalb einer relativ kurzen Zeit, also innerhalb von ein, zwei Monaten, doch in ganz vielen Wirtschaftsbereichen gelungen, neue Tarifverträge abzuschließen, wo klar drinstand: Für die Beschäftigten, die unter diesen Tarifvertrag fallen, gilt weiterhin 100 Prozent Lohnfortzahlung im Krankenheitsfall. Und damit ist es ihnen faktisch gelungen, sozusagen diese Gesetzesänderung durch Tarifverträge wieder aufzufangen.

00:27:04: 6 Maria Popov: Die Sparpolitik der Regierung aus CDU und FDP wird durch die Tarifverträge also stark abgemildert. Und drei Jahre später macht eine neue Regierung aus SPD und Grünen die Regelung wieder komplett rückgängig. Ab jetzt kriegen wieder alle – egal ob mit oder ohne Tarifvertrag – ihren kompletten Lohn überwiesen, wenn sie mal krank sind.

00:27:24: 9 *Musik*

00:27:30: 1 Innerhalb der Gewerkschaften wird oft auf diesen Erfolg verwiesen, wenn es darum geht, warum Tarifverträge wichtig sind und auch der Politik zeigen können, was die Wünsche und Forderungen der Beschäftigten sind. Thorsten Schulten sieht es allerdings auch kritisch, wenn man sich zu sehr auf Tarifverträge verlässt.

00:27:46: 2 Thorsten Schulten: Tarifvertragliche Regelungen gelten natürlich nur für die, die unter den Tarifvertrag fallen, und wir sehen ja in Deutschland leider das Problem, dass eigentlich nur noch jeder zweite Beschäftigte in Deutschland überhaupt unter einen Tarifvertrag fällt.

00:28:00: 7 *Musik*

00:28:02: 4 Maria Popov: Fassen wir also noch mal zusammen: Die Metallarbeiter in Schleswig- Holstein haben richtig lange gestreikt und hart mit den Arbeitgebern verhandelt, um auch dann voll bezahlt zu werden, wenn sie krank sind. Erst mal wurde eine Verbesserung in den Tarifverträgen festgehalten, später auch im Gesetz. Mehr als 20 Jahre später hat eine konservativ-liberale Regierung versucht, diese Regelung wieder aufzuweichen. Das konnte aber für viele ArbeiterInnen durch Tarifverträge verhindert werden. Heute ist es aber so, dass immer weniger Menschen in Betrieben arbeiten, in denen Tarifverträge gelten. So wie auch Annabell vom Anfang dieser Folge. Trotzdem ist es heute für die meisten Menschen total selbstverständlich, dass sie weiterhin Geld bekommen, wenn sie sich mal krankmelden. Aber machen sie das auch? Das wollte ich von Eike Windscheid-Profeta wissen.

00:28:52: 8 Eike Windscheid-Profeta: Es gab mal eine spannende Erhebung vom Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung aus Vor-Coronazeiten. Da konnte man rauslesen, dass so circa 70 Prozent der Beschäftigten angeben, also mindestens einmal im Jahr trotz Erkrankung zur Arbeit erschienen zu sein, und im Durchschnitt waren das irgendwie fast neun Arbeitstage pro Jahr, wo also trotz Erkrankungen gearbeitet wird.

00:29:12: 0 Maria Popov: Eike Windscheid-Profeta arbeitet in der Hans-Böckler-Stiftung in der Abteilung Forschungsförderung und beschäftigt sich dort damit, wie flexibles Leben und Arbeiten heute aussehen kann. Er beobachtet: Viele Menschen haben das Gefühl, sich nicht krankmelden zu dürfen und gehen deshalb auch dann zur Arbeit, wenn es ihnen nicht gut geht.

00:29:30: 0 Eike Windscheid-Profeta: Inzwischen liegen sogar Hinweise dazu vor, dass sich das also in der Pandemie und in der Folge noch mal verschärft hat. Der Trend geht also nach oben, könnte man sagen.

00:29:37: 7 Maria Popov: Es gibt in der Forschung sogar ein Fachwort für dieses Phänomen: Präsentismus.

00:29:42: 2 Eike Windscheid-Profeta: Und die Ursachen die sind total vielfältig. Also, es liegt nicht daran, dass Beschäftigte einfach nicht loslassen können oder wollen von der Arbeit. Ganz oft ist es so, dass sie Benachteiligungen antizipieren, wenn sie sich krankmelden. Das heißt, sie befürchten oder haben Angst, dass sie Nachteil erfahren, was Karriere, was Aufstiege, was Wertschätzung und so weiter angeht.

00:30:03: 4 Maria Popov: Viele Menschen haben auch Angst davor, dass KollegInnen für sie einspringen müssen und dann sauer auf sie sind. Oder davor, dass sich auf ihrem Schreibtisch ein riesiger Berg an Arbeit stapelt, wenn sie wieder gesund sind. Und dass heute viele Menschen auch im Homeoffice arbeiten können, hilft auch nicht unbedingt.

00:30:20: 0 Eike Windscheid-Profeta: Tatsächlich wissen wir auch, dass Menschen, wenn sie angeschlagen sind, wenn sie eigentlich krank sind, im Homeoffice sich eher noch mal an den PC setzen, als wenn sie den Weg sozusagen ins Büro auf sich nehmen müssten.

00:30:35: 6 Maria Popov: Wenn man vermeiden möchte, dass Menschen krank zur Arbeit kommen, gibt es zwei Wege. Der eine ist: Passt gut auf euch und eure KollegInnen auf. Wer krank ist, sollte sich ausruhen und nicht am Arbeitsplatz sein. Aber auch die Betriebe können einiges machen, um diesen Präsentismus zu verhindern.

00:30:51: 9 Eike Windscheid-Profeta: Man kann aber auch Arbeitsprozesse anpassen. Ganz oft ist eben nicht nur das Thema, wie verhalten sich Beschäftigte, sondern wie kann ich auch eine Verhältnisprävention gestalten, die dann dazu beiträgt, dass Beschäftigte gar nicht in die Situation geraten, möglicherweise A zu erkranken und B auch nicht Angst haben müssen, dann sich krank zu melden.

00:31:09: 6 Maria Popov: Was dabei zum Beispiel hilft ist, wenn Menschen nicht das Gefühl haben, ständig erreichbar sein zu müssen. Außerdem sollte es schon vorher Strategien dafür geben, wie Arbeit umverteilt werden kann, wenn jemand mal ausfällt.

00:31:22: 1 *Musik*

00:31:25: 3 Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist heute zum Glück für viele Menschen eine Selbstverständlichkeit. Das liegt auch an den Kämpfen der IG Metall und dem Streik der Metallarbeiter in den 50ern. Aber auch daran, dass die Gewerkschaften sich dagegenstellten, als die Politik die Regelungen in den 90ern wieder auflockern wollte. Auch heute gibt es Probleme, die kranke Menschen auf der Arbeit haben. Manche, wie Annabell und ich, arbeiten nicht in festen Strukturen und bekommen deshalb keine Lohnfortzahlung, wenn sie mal krank sind. Andere Menschen, die prekär beschäftigt sind, zum Beispiel bei Lieferdiensten, haben Angst vor Konsequenzen, wenn sie sich zu häufig krankmelden. Denn viele Arbeitgeber machen Druck. Zum Beispiel indem sie ein Arbeitsklima fördern, in dem Menschen das Gefühl haben, ihre KollegInnen hängen zu lassen, wenn sie sich mal krankmelden. Das ist der Präsentismus, von dem Eike Windscheid-Profeta erzählt hat. Manche setzen aber auch auf Einschüchterung und Kontrolle, wie zum Beispiel Tesla, wo Führungskräfte bei krankgemeldeten Personen zu Hause auftauchten, um zu überprüfen, ob sie wirklich krank sind. Es gibt also noch viel zu tun. Darum ist es wichtig, sich zusammenzuschließen und gemeinsam für bessere Arbeitsbedingungen für alle zu kämpfen.

00:32:40: 5 *Musik*

00:32:45: 1 Das war „Geschichte wird gemacht”. Die nächste Folge erscheint im Januar. Dann erzählen wir euch, warum Mitbestimmung für eine Demokratie wichtig ist und wie sie erkämpft wurde. Abonniert den Podcast, um diese nicht zu verpassen. Wenn euch die Folge gefallen hat, dann lasst uns sehr gerne eine Bewertung da und empfehlt uns weiter. Apropos Empfehlungen: Hört doch mal in den Podcast “Systemrelevant“ rein. Darin erklären WissenschaftlerInnen aus der Hans-Böckler-Stiftung aktuelle politische Ereignisse und ihren Einfluss auf die Wirtschaft. Da geht es zum Beispiel um Arbeitsschutz in der Fleischindustrie, um Menschenrechte in der Logistik oder um die Energiewende. Den Link findet ihr in den Shownotes. „Geschichte wird gemacht” ist eine Produktion von Hauseins im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung. Ich bin eure Host: Maria Popov. Redaktion: Katharina Alexander für hauseins und Dieter Pougin für die Hans-Böckler-Stiftung. Produktionsleitung: Stefanie Groth. Schnitt und Sounddesign: Joscha Grunewald. Tschüss und bis zum nächsten Mal.

00:33:42: 1 *Musik*

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