Mitbestimmtes Arbeiten – Warum das gut für die Demokratie ist

Shownotes

Mitbestimmung in Betrieben und Unternehmen ist bis heute eine wichtige Stütze für die Demokratie. Denn wer am Arbeitsplatz mitbekommt, dass die eigene Stimme zählt, nimmt dieses Gefühl auch in andere Lebensbereiche mit. Aber die Mitbestimmungsrechte, die es heute gibt, wurden hart erkämpft. Nach dem Zweiten Weltkrieg verhandelten Gewerkschaften und Arbeitgeber jahrelang über die mögliche Gleichstellung von Arbeit und Kapital. Nur unter Androhung von Massenkündigungen und Streiks kam es letztendlich dazu, dass Mitbestimmungsgesetze erlassen wurden. Eine Branche, die dafür wegweisend war, ist die Montanindustrie.

In dieser Folge sprechen wir mit Joshua Kensy, dem Vorsitzenden der ver.di Jugend darüber, was Mitbestimmung für ihn als Auszubildenden in der Pflege bedeutet hat. Außerdem werfen wir mit Historiker Karl Lauschke einen Blick auf die harten Verhandlungen zwischen Hans Böckler und Konrad Adenauer, die letztendlich zum Montanmitbestimmungsgesetz geführt haben.

„Geschichte wird gemacht” ist eine Produktion von Hauseins im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung.

Host: Maria Popov
Redaktion: Katharina Alexander für Hauseins und Dieter Pougin für die Hans-Böckler-Stiftung
Produktionsleitung: Stefanie Groth Schnitt und Sounddesign: Joscha Grunewald

**Links und Hintergründe **

Transkript anzeigen

00:00:00: *Protestrufe*

00:00:08: *Musik*

00:00:23: Maria Popov: Hi, ich bin Maria Popov und ihr hört Geschichte wird gemacht. Woran denkt ihr, wenn ihr das Wort Demokratie hört? An die vorgezogene Bundestagswahl nächsten Monat? Oder vielleicht an euren Politikunterricht? Es gibt einen Bereich, in dem wir uns demokratisch einbringen können, der bei solchen Aufzählungen oft vergessen wird. Unseren Arbeitsplatz. Denn auch dort gibt es demokratische Werkzeuge, mit denen wir mitbestimmen können, wie wir arbeiten und leben wollen.

00:00:57: Joshua Kensy: Nur dann, wenn ich Demokratie selbst erfahre, kann ich auch ein Freund der Demokratie werden.

00:01:04: Maria Popov: Joshua Kensy sitzt im fünften Stock der ver.di -Zentrale in Berlin. Vom Fenster aus kann man auf die Spree heruntergucken. Er ist 27 Jahre alt und wohnt in Berlin. Bevor er für sein Medizinstudium hergezogen ist, hat er in Hannover eine Ausbildung zum Gesundheits- und Krankenpfleger gemacht. In dieser Zeit kriegt er über einen Freund, der bei ver.di aktiv ist, von der Arbeit der Gewerkschaften mit.

00:01:27: Joshua Kensy: Ich kannte Gewerkschaften immer von dem, was man in Zeitungen oder im Fernsehen irgendwie so sieht, also stumpf aus den Nachrichten. Was genau das mit mir zu tun hatte, hatte ich wenig Plan von.

00:01:39: Maria Popov: Aber sein Freund nimmt ihn immer wieder mit zu Veranstaltungen und Workshops. Und mit Zeit merkt Joshua, das könnte auch was für mich sein. Auch weil er gerne mehr mitbestimmen will, wie seine Ausbildung genau abläuft. Darum tritt er in die Jugend- und Auszubildendenvertretung, die JAV, ein.

00:01:59: Joshua Kensy: Während meiner Zeit als Jugend- und Auszubildendenvertretung im Betrieb wurde die Ausbildung gerade zentralisiert. Das heißt, wir hatten früher an jedem Klinikumsstandort eine eigene Krankenpflegeschule. Das Ganze wurde dann zusammengesetzt, dass es eine Akademie gab und daraus ergaben sich ganz viele neue Probleme, weil die Azubis waren nicht mehr einzeln direkt zu den Krankenhäusern zugeteilt, sondern es war dann über das ganze Stadtgebiet irgendwie verteilt.

00:02:27: Maria Popov: Und das, obwohl unter Umständen auch direkt bei ihnen um die Ecke ausgebildet wird.

00:02:33: Joshua Kensy: Und da ging es dann darum, dass wir uns intensiv damit auseinandersetzt haben, wie können wir das denn besser gestalten als Jugend- und Auszubildendenvertretung. Wie können wir diese Fahrzeiten, diese Wege so gestalten, dass es für die Azubis deutlich einfacher ist, zu ihrem Ausbildungsbetrieb zu bekommen und trotzdem aber auch die ganze Möglichkeit der Ausbildung ausgeschöpft wird und jetzt nicht nur in den zentralen Kliniken in der Mitte der Stadt ausgebildet wird, sondern auch in den Randbezirken?

00:03:01: Maria Popov: Die Auszubildendenvertretung, an der Joshua damals beteiligt ist, schlägt ein einfacheres System vor, bei dem der Wohnort bei der Zuteilung der Kliniken berücksichtigt wird. Und der Vorschlag wird letztendlich auch umgesetzt. Joshua merkt in dieser Zeit, meine Stimme ist wichtig und ich kann was verändern.

00:03:19: Joshua Kensy: In der Ausbildung, ich hatte wie gesagt noch zu Beginn den einzelnen Betrieb, war da eher alleine und habe versucht, ein paar Dinge anzusprechen, wo ich mir dachte, das läuft hier nicht gut in der Ausbildung, da müssten wir andere Regelungen haben und erst danach bin ich dann in die Jugend- und Auszubildendenvertretung gekommen und alleine habe ich es nicht geschafft, die Themen anzugehen, aber als ich es dann als JAV mit den Kolleginnen und Kollegen zusammen und mit allen Azubis auch im Rücken angegangen bin, da wurde es plötzlich umgesetzt und da haben wir es dann bewegen können und das war schon der Punkt, wo ich dachte, ah krass, Demokratie schon ganz schön Dufte.

00:03:53: Maria Popov: Da ist es wieder, dieses große Wort "Demokratie". Die spielt beim Thema Mitbestimmung auch in Betrieben eine sehr große Rolle, und zwar schon von Anfang an.

00:04:04: *Musik*

00:04:05: Maria Popov: Es ist das Jahr 1947. Der Zweite Weltkrieg ist seit zwei Jahren vorbei. Trotzdem wird über die Grausamkeiten des Nationalsozialismus damals kaum gesprochen.

00:04:17: Karl Lauschke: Deutschland war immer noch sehr, sehr stark zerstört, natürlich.

00:04:20: Maria Popov: Karl Lauschke ist Historiker und forscht zur Mitbestimmung in Betrieben und Unternehmen.

00:04:25: Karl Lauschke: Es gab eine Situation, wo im Grunde genommen, ja, man gar nicht davon ausging, dass Deutschland irgendwann mal wieder auf die Beine kommt, dass überhaupt diese fatale, diese katastrophale Situation sich mal ändern wird.

00:04:38: Maria Popov: Die Lebensumstände der Menschen sind also richtig schlimm.

00:04:41: Karl Lauschke: Es mangelte an allen Dingen, die für das Leben notwendig sind, an Wohnungen, an Lebensmittel natürlich, an Heizmitteln.

00:04:47: Maria Popov: Damals glauben nicht viele Menschen daran, dass sich die Situation verbessern wird oder zumindest nicht in der nächsten Zeit.

00:04:55: Karl Lauschke: Deutschland war zu den Zeitungen, das darf man natürlich nie vergessen, besetzt von den alliierten Mächten.

00:04:59: Maria Popov: Das heißt von der Sowjetunion, den USA, England und Frankreich.

00:05:03: Karl Lauschke: Die Besatzungsmächte versuchten natürlich, soweit es in ihren Möglichkeiten stand, das öffentliche Leben in Ordnung zu halten.

00:05:09: Maria Popov: Damals wird viel darüber diskutiert, wie man der deutschen Bevölkerung nach zwölf Jahren NS-Diktatur demokratische Werte vermitteln kann. Eine Idee lautet, es soll eine Wirtschaftsdemokratie und Mitbestimmung in der Arbeitswelt geben. Die Idee dafür stammte noch aus der Weimarer Republik.

00:05:25: Karl Lauschke: Mitbestimmung war ein Kernelement, die im besetzten Deutschland von vielen gefordert wurde, insbesondere auch aus gewerkschaftlicher Sicht. Weil, das waren die Lehren des Zweiten Weltkrieges und der Zeit, die dem vorausgegangen war. Die Lehren, in denen man gesagt hat, wir können die politische Demokratie nur stützen und nur stärken, wenn es einen entsprechenden Unterbau gibt.

00:05:46: *Musik*

00:05:49: Maria Popov: Demokratie findet an ganz vielen Orten in unserem Alltag statt. Und da ergibt es doch total Sinn, dass wir sie an einem Ort, an dem wir so viel Zeit verbringen, bei der Arbeit, erleben sollten. Denn auch dort kann man Menschen zeigen, dass ihre Stimme wichtig ist und sie Einfluss haben. Und, dass es wichtig ist, zu widersprechen und für die eigenen Überzeugungen einzustehen. Diese Haltung gibt es in den Jahren nach dem Krieg übrigens nicht nur bei den Gewerkschaften. Die SPD setzt sich dafür ein, aber auch in der CDU gibt es Stimmen, die sich offen für eine neue Ordnung der Verhältnisse aussprechen.

00:06:28: Karl Lauschke: Das war ein sehr starkes Bewusstsein auch gerade in den christlichen Kreisen, bis hin zu den konservativen Kreisen sogar, dass man gesagt hat, der Gemeinschaftsgedanke, der musste gefördert werden, gerade aus den Erfahrungen des Nationalsozialismus, dieser Gemeinschaftsgedanke sozusagen, indem jeder aufgehoben ist, aber indem jeder sozusagen auch Mitgestaltungsmöglichkeiten hat, das müsse gefördert werden.

00:06:51: Maria Popov: Jakob Kaiser, Mitglied der christlichen Gewerkschaftsbewegung, Widerstandskämpfer und nach dem Krieg der Gründer und Vorsitzende der CDU-Sozialausschüsse, sagt damals:

00:07:01: O-Ton Jakob Kaiser: Die soziale Marktwirtschaft ist so lange halbsozial, bis durch Mitbestimmung und Mitbeteiligung der Arbeitnehmerschaft in der Wirtschaft eine echte Wirtschaftsdemokratie Verwirklichung findet.

00:07:12: Maria Popov: Und sogar einige Unternehmer und Arbeitgeber sprechen sich in dieser Zeit für mehr Mitbestimmung aus, denn sie haben Angst davor, dass ihre Betriebe verstaatlicht werden. In einem Archivbeitrag der ARD-Sendung "Panorama" heißt es dazu_

00:07:26: O-Ton Panorama: In einem Brief baten drei ehemals mächtige Konzernführer die Gewerkschaften um Hilfe. Sie boten die völlige Gleichstellung von Kapital und Arbeit im Aufsichtsrat an. Wir wollen uns den Forderungen einer neuen Zeit nicht verschließen und stimmen einer Beteiligung auch der Arbeitnehmerschaft an der Planung und Lenkung sowie an den Aufsichtsorganen für die großen Erwerbsgesellschaften der Eisen- und Stahlindustrie voll und ganz zu.

00:07:49: Maria Popov: Der Eisen- und Stahlindustrie wird damals eine besondere Mitverantwortung an den beiden Weltkriegen zugeschrieben. Darum überlegen die Militärregierungen der Alliierten, wie man mit dieser Branche am besten umgehen sollte.

00:08:02: Karl Lauschke: Insbesondere galt das Ruhrgebiet ja als die Rüstungskammer Deutschlands. Und einerseits wurden Waffen produziert, aber gerade die Schwerindustrie im Ruhrgebiet hat auch sehr stark 1933 die Machtergreifung des Nationalsozialismus begünstigt und ja auch gefördert.

00:08:16: Maria Popov: Vielleicht kennt ihr die Frage „Cui Bono", also "Wem nützt es?" Denn klar ist, auch am Krieg verdienen Unternehmen, wie zum Beispiel die Eisen- und Stahlindustrie.

00:08:28: Karl Lauschke: Das waren Riesenkonzerne, und da meinte man natürlich, die alle mal sozusagen und deren Macht einschränken zu müssen, indem diese Konzerne zerschlagen werden. Und das ging in folgender Weise, dass man gesagt man hat gesagt, in entsprechenden Aufsichtsgremien, wo also die strategischen Entscheidungen für die Unternehmen getroffen werden, da gilt eine Parität, das heißt, gleichermaßen Arbeitnehmervertreter wie Arbeitgebervertreter, dass die sozusagen, ja, paritätisch gleichartig halt in dem Aussichtsgremium präsent sind und von daher dann Entscheidungen treffen können.

00:08:55: Maria Popov: Außerdem setzt die britische Militärregierung, die für das Ruhrgebiet zuständig ist, fest, dass im Vorstand von Unternehmen auch ein Gewerkschaftsmitglied sitzen muss. Ab 1947 können die Arbeitnehmer*innen in der Eisen- und Stahlindustrie also mitbestimmen. Die Regelung gilt allerdings nur für diese Branche. Wenn es nach den Gewerkschaften geht, soll sich das aber bald ändern. Hans Böckler, der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, sagt damals:

00:09:26: O-Ton Hans Böckler: Nicht der Wille zur Macht hat die Gewerkschaften, wie man ihnen böswillig unterstellt, bestimmt, eine gleichberechtige Stellung für die Arbeitnehmer in der Wirtschaft zu fordern, sondern vor allem die Erkenntnis, dass der politischen Demokratie, soll sie nicht ein weiteres Mal zum Nachteil des Volkes und der ganzen Welt missbraucht werden, die wirtschaftliche Demokratie zur Seite gestellt werden muss.

00:10:02: *Musik*

00:10:05: Maria Popov: Am 15. September 1949 wird Konrad Adenauer zum ersten Bundeskanzler gewählt. Seine Partei, die CDU, regiert unter anderem zusammen mit der FDP die neu gegründete Bundesrepublik.

00:10:15: Karl Lauschke: In seiner Regierungserklärung hat er angekündigt, die Beziehung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in den Betrieben neu zu regeln. Und die Gewerkschaften haben ihn dann beim Worte genommen und haben gedacht, bitte schön, das ist genau der Punkt, wo wir sozusagen mit unseren Mitbestimmungsforderungen da auch Gehör finden und wo das eine Chance hat, durchgesetzt zu werden.

00:10:32: Maria Popov: Adenauer und seine Regierung lehnen sich allerdings erst mal zurück und sagen, hey, nee, einigt ihr euch doch erst mal untereinander, wir greifen da nicht ein.

00:10:39: Karl Lauschke: Die Regierung hat zu dem Zeitpunkt gesagt, das wäre eine Angelegenheit der sogenannten Sozialpartner, nämlich der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer, die müssen zunächst mal selbst ein Übereinkommen finden, wie sie ihre Verhältnisse regeln. Wenn die sich einigen auf eine bestimmte Regelung, dann wäre die Regierung auch gerne bereit, das also in gesetzliche Form zu fassen und das auch entsprechend zu verabschieden.

00:10:59: Maria Popov: Die Gewerkschaften fangen also ab 1950 an, mit den Arbeitgebern zu verhandeln. Allerdings gibt es auch innerhalb der Gewerkschaften verschiedene Ansichten darüber, wie gute Mitbestimmung aussehen sollte.

00:11:11: Karl Lauschke: Es gab einerseits Vertreter innerhalb der Gewerkschaften, die, sagen wir mal, eine überbetriebliche Mitbestimmung, die über die Unternehmen hinausgeht, sozusagen auf Bezirks-, Landes- und Bundesebene entsprechende Mitbestimmungsmöglichkeiten schafft. Die waren dann eher bereit auf Betriebs- und Unternehmensebene quasi Zugeständnisse an die Arbeitgeber zu machen. Umgekehrt gab es dann andere Strömungen innerhalb der Gewerkschaft, die gesagt haben, nein, nein, wir wollen natürlich in den Unternehmen, in den Betrieben, da wollen wir ganz starke Mitbestimmungspositionen haben.

00:11:36: *Musik*

00:11:39: Maria Popov: Diese zweite Strömung orientiert sich stark an dem Modell, dass die britische Militärregierung für die Stahl- und Eisenindustrie eingeführt hat. Die paritätische Mitbestimmung. So was sollte es in allen Branchen geben, das fordern sie. Es gibt einen Gewerkschafter, der sich dafür besonders aktiv einsetzt, Hans Böckler, der erste Vorsitzende des 1949 gegründeten Deutschen Gewerkschaftsbundes. In der nächsten Folge werden wir uns ihn und seine Bedeutung für die Gewerkschaften noch genauer anschauen. Sein zentrales Anliegen, die Gleichberechtigung von Arbeit und Kapital, oder anders gesagt, die Demokratisierung der Wirtschaft. Böckler fand nämlich, dass Menschen nicht Untertanen, sondern Bürger und vor allem in den Angelegenheiten der Wirtschaft mitgestalten und mitverantwortlich sein sollten.

00:12:35: Karl Lauschke: Der hatte eine unheimliche Autorität gehabt und der war ein überzeugter Vertreter dieser Mitbestimmung im Unternehmen und in den Betrieben und für den war ganz klar, das Modell der Eisen- und Stahlindustrie das müsste sozusagen insgesamt durchgesetzt werden. Man kann sich vorstellen, diese Forderung war den Arbeitgebern überhaupt gar nicht recht, also von daher diese ganzen Verhandlungen, die stattfanden im Laufe des Jahres 1950, die scheiterten, weil es da keinen Kompromiss, keine Einigung gab.

00:13:03: Maria Popov: Erinnert ihr euch noch an die Konzernchefs, die meinten, sie würden sich den Forderungen einer neuen Zeit nicht verschließen wollen? Davon ist bald nicht mehr viel übrig. Und auch Konrad Adenauer ändert seine Position. Seine Regierung will jetzt doch lieber den wirtschaftlichen Aufschwung weiter pushen und die Unternehmen stärken. Sein Kabinett hat sogar die Idee, die paritätische Mitbestimmung in der Eisen- und Stahlindustrie wieder rückgängig zu machen. Das konnten die Gewerkschaften natürlich nicht so einfach hinnehmen.

00:13:30: Karl Lauschke: 1950, Anfang Dezember, gab es eine Urabstimmung im Ruhrgebiet, in der Eisen- und Stahlindustrie. Und zwar wurde dann gefragt, inwieweit die Beschäftigten bereit seien, auch mithilfe eines Kampfes die Mitbestimmung durchzusetzen. Und da war der überwiegende Teil über 90 Prozent der Stahlarbeiter waren bereit, gegebenenfalls auch mit Kampf diese Bestimmung durchzusetzen.

00:13:52: Maria Popov: Bei einer Urabstimmung werden alle Gewerkschaftsmitglieder gefragt, ob sie bereit wären für eine Forderung, zum Beispiel einen Tarifvertrag oder eben in diesem Fall die Mitbestimmung, zu streiken? Stimmen mehr als Dreiviertel zu, beginnt der Arbeitskampf. So eine Urabstimmung gab es damals nicht nur in der Eisen- und Stahlbranche, sondern auch im Bergbau.

00:14:15: Karl Lauschke: Auch da war es so, dass mit einer riesengroßen Mehrheit sich die Bergarbeiter bereit erklärt hatten, gegebenenfalls mit Hilfe eines Streiks diese Mitbestimmung durchzusetzen.

00:14:26: Maria Popov: Das Problem ist allerdings, die Arbeiter*innen wollen betriebsübergreifend für die Mitbestimmung streiken. Und so ein politischer Streik ist in Deutschland nicht erlaubt.

00:14:36: Karl Lauschke: Das Parlament muss frei entscheiden können und darf nicht erpresst werden, von welcher Seite auch immer. Und auch nicht von Seiten der Gewerkschaften, so wurde dann argumentiert.

00:14:44: Maria Popov: In dieser Zeit hat Hans Böckler eine besondere Idee, um auch ohne Streik Druck auf die Unternehmer und die Regierung auszuüben.

00:14:51: Karl Lauschke: Man hat dann nämlich gesagt, ja, wir führen keinen Streik durch, sondern wir fordern die Arbeitnehmer auf, zu kündigen. Jeder Arbeitnehmer im Bereich der Eisen- und Stahlindustrie und auch im Bergbau, die kündigen ihre Arbeitsverträge. Das kommt im Endeffekt einem Streik gleich. Aber die Gewerkschaft hat ja nicht zum Streik aufgerufen.

00:15:08: Maria Popov: Nicht alle sind von dieser Idee begeistert.

00:15:09: Karl Lauschke: Das wurde auch von manchen kritisiert, beispielsweise von den Kommunisten wurde das kritisiert, weil die gesagt haben, damit würde das Risiko ja sozusagen auf die Schultern der einzelnen Beschäftigten verlagert und die Gewerkschaften würden sozusagen sich der Verantwortung entziehen.

00:15:20: Maria Popov: Trotzdem unterschreiben über 100.000 Arbeiter*innen solche Kündigungslisten. Sie sagen, wenn ihr uns nicht mitbestimmen lasst, sind wir weg. Der Gewerkschafter Hans-Eberhard Urbaniak reist damals von Zeche zu Zeche und erklärt, warum sich dieses Risiko lohnt.

00:15:37: O-Ton Hans-Eberhard Urbaniak: Ich habe den Arbeitern erklärt, dass wir das Kapital der Arbeit, diese Erfahrung der Arbeitnehmerschaft aus dem täglichen Arbeitsleben sortieren, bündeln und einsetzen müssen für die Entwicklung der Unternehmen. Wer auf dieses Potenzial verzichtet, muss ein Idiot sein.

00:15:52: Maria Popov: Durch den Druck der Gewerkschaften spitzt sich die Situation immer weiter zu. Bis sich Bundeskanzler Konrad Adenauer gezwungen sieht, zu reagieren und Verhandlungen mit Hans Böckler zuzustimmen.

00:16:04: Karl Lauschke: Hans Böckler und Konrad Adenauer, die kannten sich ja schon seit der Weimarer Republik. Hans Böckler war auch im Kölner Stadtrat gewesen, als Konrad Adenauer da Oberbürgermeister war, hatten unterschiedliche Positionen gehabt, aber man kannte sich. Das ist, denken wir schon, eine ganz wichtige Grundlage gewesen. Beiden war klar in der Situation, im Grunde genommen nur ein Ausweg zu finden ist, wenn man eine Regelung im Bereich der Montanindustrie schafft.

00:16:24: Maria Popov: Montanindustrie, damit sind die Eisen- und Stahlindustrie und der Bergbau gemeint. Also die Branchen, in denen die Arbeiter*innen gerade bereit sind, sogar ihre Stellen zu kündigen, wenn sie nicht das bekommen, was sie wollen.

00:16:35: Karl Lauschke: Und das könnte man nur verhindern, indem man zumindest in dem Bereich die Mitbestimmungsregelung wirklich durchsetzt. Konrad Adenauer war natürlich wichtig, dass das sozusagen nur auf diesem Bereich beschränkt bleibt, nur auf den Bereich der Montanindustrie. Genau auf der Ebene hat man sich dann gefunden.

00:16:49: Maria Popov: Nach der Einigung mit Adenauer verkündet Hans Böckler Ende Januar 1951 in einer Radioansprache:

00:16:56: O-Ton Hans Böckler: Die von den Arbeitern und Angestellten der Metallindustrie ausgesprochenen Kündigungen gelten als zurückgenommen. Der Streik im Bergbau wird nicht durchgeführt. Die Bundesregierung, vertreten durch den Herrn Bundeskanzler, der zeitweilig an den Verhandlungen beteiligt war, hat die bindende Erklärung abgegeben, unverzüglich Bundestag und Bundesrat ein Gesetz zu unterbreiten, durch dessen Annahme die zwischen den Sozialpartnern getroffenen Vereinbarungen geltendes Recht werden.

00:17:32: Maria Popov: Das Montan-Mitbestimmungsgesetz kommt.

00:17:34: Damit ist in der Eisen- und Stahlindustrie und im Bergbau ein erster Schritt auf den Weg zur Neuordnung der deutschen Wirtschaft getan. Die übrigen Wirtschaftszweige werden folgen müssen.

00:17:51: Maria Popov: Und Böckler macht in seiner Rede auch noch deutlich, hier geht es um mehr als die Neuordnung der Wirtschaft. Hier geht es um die Demokratie.

00:18:00: O-Ton Hans Böckler: Ein politisch freier Mensch, ein Wirtschaftsbürger, wie wir ihn schaffen wollen, wird niemals Konzentrationslager und Unfreiheit dulden. Darum sind wir Gewerkschafter stets so zukunftsfreudig.

00:18:17: Maria Popov: Die Gewerkschaften feiern. 1951 wird das Montan-Mitbestimmungsgesetz endlich erlassen. Es regelt, wie die Aufsichtsräte von Unternehmen im Bergbau und in der Eisen- und Stahlindustrie besetzt sein sollen. Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen machen jeweils die Hälfte der Mitglieder aus, sind also paritätisch vertreten. Damit es nicht ständig zu Pattsituationen kommt, gibt es außerdem eine neutrale Person, auf die sich beide Seiten gemeinsam einigen. Aber Moment, was genau macht eigentlich ein Aufsichtsrat? Ein Aufsichtsrat kontrolliert und berät den Vorstand, beziehungsweise die Geschäftsführung eines Unternehmens. Wenn die Arbeitnehmer*innen also Teil des Aufsichtsrats sind, heißt das, dass sie dort mitsprechen können und damit ein Gegengewicht zur Kapitalseite bilden können. Also der Seite, der es oft nur darum geht, möglichst schnell, möglichst viel Geld zu machen. Hans Böckler, der zu diesem Zeitpunkt 75 Jahre alt ist, erlebt nicht mehr, wie das Gesetz in Kraft tritt. Er stirbt im Februar 1951.

00:19:31: *Musik*

00:19:34: Maria Popov: In den nächsten Jahren und Jahrzehnten wird über das Montan-Mitbestimmungsgesetz immer wieder gestritten. Es gibt in dem Gesetz zum Beispiel ein Schlupfloch für Konzerne, die Tochterunternehmen haben. In den kleineren Tochterunternehmen gilt zwar die Montanmitbestimmung, in der übergeordneten Holding, dem Mutterkonzern, aber nicht. Und dort werden letztendlich die wichtigen Entscheidungen getroffen. Über diese Regelung streiten die Unternehmen und die Gewerkschaften jahrelang immer wieder miteinander. In den 70er Jahren wird dann ein neues Gesetz erlassen, das Mitbestimmungsgesetz. Es gilt für alle Aktiengesellschaften mit mehr als 2.000 Beschäftigten. Das Gesetz sieht vor, dass der Aufsichtsrat paritätisch, also je zur Hälfte, aus Arbeitnehmerin*innen und Vertreter*innen des Kapitals besetzt werden soll. Allerdings entscheidet bei Pattsituationen der oder die Vorsitzende und nicht mehr eine neutrale Person. Und weil die Kapitaleignerseite über den Aufsichtsratsvorsitz entscheidet, ist die Seite der Arbeitgeber dadurch stärker. Und ab den frühen 2000ern kommt dann durch die Globalisierung noch ein neues Problem dazu. Aktiengesellschaften können ihren Sitz einfach in andere europäische Länder verlegen und sich dadurch den deutschen Mitbestimmungsregelungen entziehen. Wenn ihr in diese Entwicklungen gerne tiefer einsteigen wollt, hört doch mal in den Podcast „Systemrelevant“ rein. Die haben eine Folge zu 70 Jahren Montan-Mitbestimmungsgesetz gemacht, die wir euch in den Shownotes verlinken.

00:21:32: Karl Lauschke: Ursprünglich waren die Gewerkschaften ja auch dafür angetreten, auch nach dem Zweiten Weltkrieg gerade, so was wie eine Wirtschaftsdemokratie durchzusetzen. Montan-Mitbestimmung war ein Kernelement dieser Neuordnung, dieser Wirtschaftsdemokratie. Also, dass man gesagt hat, insgesamt die gesamte Wirtschaft muss viel demokratischer gestaltet werden. Davon ist natürlich überhaupt keine Rede mehr.

00:21:54: Maria Popov: Im Vergleich zu den Zielen, mit denen die Gewerkschaften ursprünglich angetreten sind, sind die Möglichkeiten der Bestimmung in den Betrieben heute nicht ganz so weitreichend. Aber es gibt sie. Die Möglichkeit, sich über Aufsichts-, Betriebsräte oder Jugend- und Ausbildungsvertretungen einzubringen und so die eigenen Arbeits- und damit Lebensbedingungen mitzubestimmen. Und übrigens ist das nicht nur für die Beschäftigten gut. Unternehmen mit einer starken Mitbestimmung handeln nachhaltiger, schaffen mehr Ausbildungsplätze, bieten mehr Arbeitsplatzsicherheit und sind krisenfester. Außerdem sind dort mehr Frauen in Aufsichtsreden vertreten. Diese positiven Effekte sind auch Joshua Kensy wichtig, den ihr am Anfang dieser Folge schon mal gehört habt.

00:22:36: Joshua Kensy: Dinge, die sonst häufig immer so gesehen werden mit, na ja, das macht halt mein Chef und dann habe ich das zu erledigen, unterliegen in Deutschland der Mitbestimmung und da können wir total dankbar auch sein. Was heißt dankbar, auch diese Gesetze haben wir als Gewerkschaften, ja, erkämpft, aber wir müssen es auch nutzen.

00:22:55: Maria Popov: Joshua findet es vor allem wichtig zu wissen, in welchen Punkten diese Mitbestimmung ganz konkret die Situation von Menschen in Unternehmen verbessert.

00:23:04: Joshua Kensy: Das beispielsweise bei der Dienstplan- oder bei der Arbeitszeitgestaltung, der Betriebsrat oder wenn es Auszubildende und junge Beschäftigte betrifft, die Jugend- und Auszubildendenvertretung mitbestimmen kann und das heißt wirklich an dem Punkt, solange der Betriebsrat, Personalrat, die JAV dem nicht zustimmt, kann es auch nicht umgesetzt werden. Und das ist etwas unglaublich Starkes und unglaublich Mächtiges.

00:23:27: Maria Popov: Für Joshua ist Mitbestimmung der entscheidende Hebel, wenn es darum geht, wie der Arbeitsalltag aussieht.

00:23:32: Joshua Kensy: Arbeitgeber versuchen uns regelmäßig immer zu erklären, dass wir auch Verantwortung haben und auch mal einen Schritt kürzertreten müssen. Gerade in Tarifrunden erleben wir das immer wieder. Das ist aber am Ende nicht so, sondern wir stellen unsere Arbeitskraft zur Verfügung und kriegen dafür im Gegenzug unsere Bezahlung. Und gerade mit Mitbestimmung kann an der Stelle dann ein Arbeitsplatz aber zu einem Arbeitsplatz gemacht werden, an dem ich trotz dessen gerne arbeite, weil die Arbeitsbedingungen so sind, dass ich nicht, wenn ich Montagmorgen nach einem Wochenende aufstehe und los muss, direkt irgendwie Übelkeit verspüre, sondern mir denke, nee, ich habe tatsächlich Lust, irgendwie jetzt zur Arbeit zu fahren, weil ich erst um 9 Uhr anfange, weil wir super mitbestimmte Zeiten haben und nicht um 6 Uhr morgens oder weil mein Büro auch so ausgestattet ist, dass ich damit auch vernünftig arbeiten kann und nicht irgendwie wie so ein Schrimp am Schreibtisch klebe.

00:24:30: Maria Popov: Joshua ist bis heute stolz auf die Ergebnisse, die er in seiner Zeit bei der Jugend- und Auszubildendenvertretung mit erarbeitet hat. Ein Tarifvertrag, mehr Urlaub für die Azubis oder eben ein Verteilungsschlüssel, der dazu führt, dass niemand unnötig lange zur Arbeit braucht.

00:24:45: Joshua Kensy: Und das zu wissen, was man da erkämpft hat, das macht auch ziemlich, ziemlich glücklich, wenn man weiß, damit ist Ausbildung ein deutliches Stück besser geworden.

00:24:53: Maria Popov: Mitbestimmung in Betrieben und Unternehmen ist bis heute eine wichtige Stütze für die Demokratie. Sie wurde in den 50er Jahren in harten Verhandlungsrunden und unter Androhung von Streiks und Massenkündigungen erkämpft. Auch wenn die komplette Gleichstellung von Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen gerade in Aufsichtsreben eine Forderung ist, die sich nie branchenübergreifend durchgesetzt hat. Trotzdem lohnt es sich, sich weiter für Verbesserungen einzusetzen, die eigene Stimme zu nutzen und die Mitbestimmungsrechte, die es gibt, gegen Angriffe zum Beispiel von rechten Parteien und marktradikalen Kräften zu verteidigen.

00:25:32: *Musik*

00:25:37: Maria Popov: Das war „Geschichte wird gemacht“. In der nächsten Folge schauen wir uns das Leben von Hans Böckler genauer an. Abonniert den Podcast, um diese dann nicht zu verpassen. Und wenn euch die Folge hier gefallen hat, dann lasst uns doch gerne ein Feedback da oder eine Bewertung und empfehlt uns gerne weiter. „Geschichte wird gemacht“ ist eine Produktion von Haus 1 im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung. Ich bin eure Haust, Maria Popov. Redaktion Katarina Alexander für Haus 1 und Dieter Pougin für die Hans-Böckler-Stiftung. Produktionsleitung Stefanie Groth. Schnitt und Sounddesign Joscha Grunewald. Ciao und bis zum nächsten Mal.

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